Stefan König
Auf dem hohen Berg
Eine Liebesgeschichte.
Anno 1906 auf der Zugspitze
BERG & TAL Verlag
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Nachsatz
Im Oktober des Jahres 1906, früh am Morgen eines wundervollen, aber kalten Herbsttages, machte sich im Werdenfelser Reinthal eine aus Menschen und Tieren zusammengesetzte Gruppe auf den Weg. Fünf Männer, sechs Maultiere und ein Meteorologe. Bei Letzterem handelte es sich um Anselm Straub, der erst vor wenigen Wochen seinen siebenundzwanzigsten Geburtstag gefeiert hatte. Er war bestimmt dazu, als Wetterwart den bevorstehenden Winter auf der Zugspitze zu verbringen.
Ganz allein auf Deutschlands höchstem Berg, zweitausendneunhundertvierundsechzig Meter hoch.
In diesen Hochlagen dauert der Winter lange. Erst Mitte Juni des darauffolgenden Jahres sollte der Wetterwart abgelöst werden. Straub würde also acht Monate lang die Temperaturen und den Luftdruck überwachen, die Windgeschwindigkeiten und die Schneehöhen. Er würde die Wolken studieren und die Fernblicke vermessen. Und er würde Buch führen über das Wesen des Wetters und der Natur.
Seine wichtigste Aufgabe freilich war, täglich Wetterprognosen ins Tal zu melden. Dafür gab es ein Telefon; die Leitung war 1896 von Garmisch herauf mühsam verlegt und seither mehrfach ausgebessert und dem neuesten Stand telegraphischer Technik angepasst worden.
Die kleine Expedition war am Tag zuvor in Partenkirchen aufgebrochen. Angeführt vom alten Dengg, der jede Spitze und jede Falte seines Gebirges kannte, und der deshalb keine Kraxe zu schultern und kein Muli zu treiben hatte. Seine Aufgabe bestand darin, vorneweg zu gehen und auf die nicht unerheblichen Gefahren des Gebirges zu achten. Er hatte als Führer einen guten Ruf, bärbeißig, aber zuverlässig. Mürrisch, aber erfahren und dazu ausgestattet mit einem Riecher für den richtigen Weg.
»Mir sind spät dran«, murrte er. »Oktober ist spät fürs Naufgehen zum Zugspitz.«
Dengg fürchtete einen Wetterumschwung, gar einen plötzlichen Wintereinbruch.
Aber der Meteorologe hatte ihn nachsichtig lächelnd beruhigt. Er war nicht nur ein Mann der Wissenschaften, er war, trotz seiner Jugend, gesegnet mit besten Instinkten, zumindest was das Wetter betraf.
»Wenn Schnee käme«, hatte er zum alten Dengg gesagt, »dann würde ich es beim Pissen spüren. Und zwar eine Woche im Voraus.«
Die Maultiere waren mit all dem beladen worden, was Straub in den kommenden Monaten in seiner völligen Abgeschiedenheit benötigen würde. Lebensmittel, Kleidung, Wäsche, Hygieneartikel. Ein zweites Paar Bergstiefel (das andere trug er an den Füßen), Stulpenstiefel, Hauspantoffel und ganz normale Haferlschuhe. Medizin, Schnaps, Pfeifentabak. Schreibzeug für seine persönlichen Aufzeichnungen. Bücher zu Studienzwecken und Bücher zur Unterhaltung. Außerdem den Jahrgang 05 der Deutschen Alpenzeitung, weil er noch viele Beiträge lesen wollte, zu deren Lektüre ihm immer die Zeit gefehlt hatte. Nicht zu vergessen das Grammophon, das ihm seine Mutter gekauft und ihm bei der Abreise, gleichsam als Überraschung, gut verpackt unter den Arm geklemmt hatte. »Auf die Scheiben musst du besonders aufpassen, mein Junge«, hatte sie gesagt. »Die brechen ja so leicht.«
Zuerst war ihm dieses liebevolle Geschenk gar nicht genehm gewesen. So viele Umstände, Unkosten. Wegen ihm! Und transportiert werden musste das ja auch. Ob das wohl gut ginge! Doch dann hatte er begonnen, sich allmählich anzufreunden mit dem Gedanken, dort droben, im Alleinsein, jederzeit Musik genießen zu können.
Arien von Caruso. Den Chor aus Nabucco. Wiener Walzer. Märsche. Und Klaviermusik von einem gewissen Scott Joplin. »Ist auch was für junge Leute dabei«, hatte seine Mutter gesagt.
Dort droben könnte er zu jeder Tages- und Nachtzeit Musik hören, hatte er überlegt. Laut, wenn er wollte. Musste auf niemanden Rücksicht nehmen. Ja, sogar tanzen konnte er, wenn ihm der Sinn danach stand. In Bergstiefeln und langen Unterhosen, wenn es ihm so gefiel.
Straub musste lächeln bei dieser Vorstellung.
Die Träger und Treiber waren junge kräftige Männer. Sie waren es gewohnt, im Wald und auf den Höfen zu arbeiten. Sie waren stark und genügsam, ausdauernd und wortkarg. Die Tour auf die Zugspitze war für sie Zubrot. Während der Sommermonate versorgten sie mit ihren Mulis die Hütten im Reinthal und auf dem Gipfel. Und nun, seit 1900 der erste Meteorologe auf der Zugspitze Quartier genommen hatte, auch noch das Observatorium. Ihre Gesichter waren vom Wetter gegerbt, einer hatte rote Wangen wie ein kleines Kind. Die anderen trugen wolkige Bärte und ihre Hände waren groß und schmutzig.
Wahrscheinlich waren auch ihre Gedanken schmutzig.
Straub dachte an den Abschied am Vortag, als Elisabeth, seine Verlobte, und ihr Vater am Ende des Ortes umgekehrt waren, immer wieder sich umschauend nach ihm und seiner Truppe, immer noch einmal winkend, dann aber feste ausschreitend, um den Ein-Uhr-Zug nach München noch zu erreichen. Er dachte an den Moment, da sein Schwiegervater in spe, der Amtsgerichtsrat Hofbauer, ihn an beiden Schultern gepackt und ihn für einen kurzen Moment an sich gezogen hatte. In seinem Blick lag Anerkennung, lag Respekt, lag Vertrauen und auch die Zusicherung, dass er ihm, nach seiner Rückkehr vom hohen Berg, die Tochter überlassen würde. Und der Amtsgerichtsrat hatte es sodann gestattet, dass seine Tochter ihren Versprochenen zart auf die Wangen küsste, errötend dabei, weil die derben Mulitreiber ungeniert zusahen und zu grinsen anfingen und zwischen den buschigen Bärten ihre Zähne zeigten.
Elisabeth hatte ihm mit dem Daumen ein Kreuzzeichen auf die Stirn gemalt, und wahrscheinlich hatten sich die Kerle derweil vorgestellt, wie sie wohl nackt aussehen würde. Was die natürlich einen Dreck anging. Wusste er es doch selbst nicht, und er kannte sie jetzt immerhin schon fast zwei Jahre. Aber alle Zusammentreffen hatten im Beisein des Amtsgerichtsrates oder seiner Gemahlin stattgefunden, und es hatte immer nur wenige Minuten der ungestörten Zweisamkeit gegeben, gerade lang genug, um ihr mit der Zunge die Lippen auseinander zu schieben oder einige flüchtige Augenblicke lang den von mehreren Lagen der Bekleidung bedeckten Busen zu betasten oder auch, was sehr selten vorkam, ihre prüfende Hand ein paar Sekunden zwischen seinen Beinen zu spüren. Elisabeth würde keinen Grund haben, unzufrieden zu sein, da war er sich gewiss.
Unterm Kochelberg, dort wo die Partnach das flache, mit unzähligen Heustadeln bestückte Wiesen- und Weideland erreichte, waren sie aufgebrochen. Am Bach entlang, der jetzt, anders als zur Zeit frühsommerlicher Schneeschmelze, fast schon gemächlich daherkam.
Bald war es steil hinaufgegangen. Unter sich hörten sie das Wasser in der engen Klamm tosen, über ihnen wurden allmählich die Berge frei. Schon bei der stillen Partnachalm und dann auf dem Weiterweg zur Einöde des Reinthaler Hofs hatten sie unverstellte Ausblicke gehabt auf den Höhenzug des Wettersteinkammes und zu den Dreithorspitzen, die sich markant über dem Schachen erhoben.
Da drüben war ich auch schon, hatte er sich erinnert. Beim Königshaus, vor Jahren.
Er war nämlich schon einige Male in diesem Gebirge unterwegs gewesen, alleine oder mit Kommilitonen, war auf den Wank gestiegen und hinauf zum »Bauern am Eck«, er war zum Schachen gewandert und hatte von dort ins lange Reinthal hinuntergesehen. Ja, selbst die Zugspitze hatte er sich schon erobert, und zwar von Norden her, auf dem kühnen und abenteuerlichen Weg durch das Höllenthal. Damals noch nicht ahnend, dass der Gipfel einmal für längere Zeit seine Heimstatt werden würde.
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