Die Selbsterhaltungsfähigkeit ist ein wichtiger Unterschied zu der Maschinen-Methaper der rationalen Systemperspektive. Die Kaffeemaschine kann sich in einem gewissen Maße ggf. noch selbst regulieren (anzeigen, dass Wasser nachgefüllt werden muss), kann sich aber nicht selbstständig mit Strom, Wasser oder Kaffeebohnen versorgen. Der In- oder auch Output kann von der (Kaffee-)Maschine nicht dazu genutzt werden, sich selbst zu reparieren oder ihr Überleben zu verlängern.
Die Maschine kann ihre Inputs also nicht so verarbeiten, dass sie sich damit selbst erhalten kann wie biologische Systeme, Planzen, Tiere und Menschen das können (Scott & Davis, 2007).
Um die Selbsterhaltungprozesse auszuführen, muss ein System offen sein und Ressourcen aus der Umwelt aufnehmen (wie z. B. Mitarbeiter/innen, Rohmaterialien, Kunden, Zulieferer oder Gesetzgeber). Die offene Systemeperspektive betont daher, dass Organisationen von Ressourcen (Inputs) der Umwelt abhängen. Betrachet werden zudem die Austauschbeziehungen mit anderen Organisationen und mit der Umwelt, d. h. Organisationen produzieren Güter (Output), die wiederum von anderen Organisationen weiterverarbeitet werden. In der offenen Systemperspektive stellt der »Fluss« einen zentralen Begriff dar. Menschen, Materialen und Güter fließen (Throughput) durch die Organisation hindurch. Die Ressource der Mitarbeiter/innen (Human Resources,
Kap. 4) gelangt auf verschiedenen Ebenen in die Organisation, verlässt diese auch wieder, baut währenddessen Wissen auf und nimmt dieses beim Verlassen auch wieder mit. Es gilt daher festzustellen, wie die Organisation mit der Aufnahme und Wiederabgabe von Ressourcen die verschiedenen Anspruchsgruppen am besten zufriedenstellen kann (Huber, 2011).
Theorien, die diese Perspektive einnehmen, sind u. a. die Perrows »Normal Accident Theory«, die Theorien zu High Reliability-Organisationen (s. u.), die Kontigenz-Theorien (s. u.) und die Network-Theorien (s. u.).
1.1.2 Prominente Organisationstheorien
Nach Huber (2011) lassen sich die derzeit aktuellen Organisationstheorien nicht auf einer Zeitachse anordnen, da ihr Ursprung nicht immer klar zeitlich einzugrenzen ist. Huber (2011) schlägt deshalb eine alternative Ordnung von Organisationstheorien anhand von drei Dimensionen vor. Diese Dimensionen beziehen sich auf:
1. die Betrachtungseinheit, d. h. werden einzelne Organisationen betrachtet (z. B. ein Call Center) oder Organisationen einer ganzen Branche (z. B. alle Softwareunternehmen),
2. die abhängige Variable in der Theorie, d. h. wird Überleben oder Untergang betrachtet, Leistung oder die Struktur,
3. Art und Ausmaß von Macht, die einzelne Akteure in der Organisation besitzen, um auf die Leistung oder organisationale Merkmale einwirken zu können.
Die nachfolgenden Organisationstheorien werden entlang dieser drei Dimensionen vorgestellt.
Population Ecology und Evolutionary View
Die Organisationstheorien der Population Ecology und der sog. Evolutionary View beschäftigen sich mit ganzen Populationen von Organisationen innerhalb einer geographischen oder zeitlichen Grenze, die alle ähnliche Formen und Strukturen aufweisen und sich dadurch von anderen Populationen unterscheiden lassen.
Evolutionstheoretische Ansätze sehen Organisationen als zu komplex an, als dass sie durch geplante Eingriffe in berechenbarer Weise in einen gewünschten Zielzustand überführt werden könnten (Kieser & Woywode, 1999; Woywode & Beck, 2014). Akteure in Organisationen setzen Änderungsprozesse in Gang, die sie nur zum Teil kontrollieren können, denn ihre Pläne enthalten unrealistische Annahmen, ihre Maßnahmen haben Nebenwirkungen und andere Wirkungen als gedacht, es ergeben sich Effekte der Eigendynamik und es entstehen durch die Maßnahmen weitere Probleme. Dementsprechend werden solche Eingriffe aus evolutionstheoretischer Sicht erst einmal nur als Variationen angesehen. Nicht die Gestalter/innen, sondern die Auslese durch die Umwelt (z. B. der Markt), entscheidet letztlich darüber, welche organisationalen Variationen von Nutzen sind und das Überleben unterstützen (Kieser & Woywode, 1999; Woywode & Beck, 2014).
Population Ecology porträtiert eine organisationale Landschaft, die aus verschiedenen Populationen und Subpopulationen besteht, die miteinander im Wettbewerb um knappe Ressourcen stehen, z. B. um Mitarbeiter/innen, Kapitel und Legitimierung.
Der »Genpool« von Organisationen
Analyseeinheit der evolutionstheoretischen Ansätze ist die Population, die durch Teilhabe an einerm gemeinsamen »Genpool« definiert ist (Kieser & Woywode, 1999). Die einer Population angehörenden Organisationen zeichnen sich – in Analogie zum biologischen Genotyp – durch eine gemeinsame Grundstruktur, einen gemeinsamen Bauplan oder ein Basismuster aus. Sie ähneln sich in der organisationalen Form und den organisationalen Aktivtäten für die Transformation von Inputs zu Outputs (s. o.; Kieser & Woywode, 1999, S. 256). Der Reproduktionserfolg erfolgreicher genetischer Merkmale einer Organisationspopulation ergibt sich auf der Basis ihrer Kompetenzen, kurz »Comps« (Competences) als Analogon zur genetischen Information der Gene. Organisationale Comps sind z. B. Prozeduren und Regeln, Baupläne, Software, Prozessabläufe, Stellenbeschreibungen, Führungsleitlinien. Alle Comps einer Organisation bilden den Comppool, d. h. ihren »Genotyp« (Kieser & Woywode, 1999, S. 259). Eine Organisationspopulation ist demnach durch einen kollektiven Comppool gekennzeichnet.
Die Theorie der Population Ecology erklärt die Merkmale und Umstände von Populationen durch die Passung der Merkmale der Organisationen in der Population in Relation zu Merkmalen von Organisationen in konkurrierenden Populationen (Huber, 2011; Hannan & Freeman, 1977). In neueren Arbeiten werden neben den klassischen evolutionstheoretischen Prozessen der Variation und Selektion (»survival of the fittest«) auch Transformationsprozesse wie z. B. Unternehmenszusammenschlüsse (»Mergers«) betrachtet.
Wie verbreiten sich die effektiven Comps in einer organisationalen Population?
Effektive Comps verdrängen weniger erfolgreiche, da sich die erfolgreichen Comps schneller verbreiten, z. B.
• indem Mitarbeiter/innen erfolgreicher Organisationen häufiger abgeworben werden und die Comps in die anwerbenden Organisationen übertragen,
• indem Mitarbeiter/innen aus Organisationen mit erfolgreichen Comps häufiger als Sprecher/in auf Konferenzen oder Meetings eingeladen werden,
• weil Organisationen mit erfolgreichen Comps eher ausspioniert werden,
• oder Universitätsprofessoren/innen häufiger die erfolgreichen Organisationen untersuchen als die weniger erfolgreichen und
• die erfolgreichen Comps durch die Beratungspraxis von Unternehmensberatern kopiert und verbreitet werden.
In der evolutionären Betrachtung (Evolutionary View) geht es ebenfalls um Variation und Selektion, jedoch in einer weitergefassten Betrachtung, z. B. ist sie expliziter darin zu erklären, wie Variation entsteht. Die Frage ist, ob Variation eher durch neu gegründete Organisationen entsteht oder durch bereits etablierte. Kann z. B. eine lang etablierte Organisation mit einer 100-jährigen Tradition, wie Siemens oder Daimler, sich selbst transformieren? Oder brauchte es ein Start-up wie Tesla, um die Elektromobilität für Käufer/innen attraktiv zu machen?
Mögliche Quellen von Variation sind (Huber, 2011)
a) umfeldbedingte Ereignisse, wie neue verfügbare Technologie (z. B. künstliche Intelligenz, das Internet, das Internet der Dinge, RFID Chips;
Kap. 1.3),
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