Erst am anderen Tag ließ man einen Arzt kommen, der eine Lungenentzündung feststellte. Diese Diagnose kam einem Todesurteil gleich; gegen diese Krankheit gab es seinerzeit noch keine wirkungsvolle Arznei. Leonhard starb nach einer Woche im Alter von 23 Jahren. Für seine Eltern war das ein schwerer Schlag. Ihr einziger Trost war nun der Zweitgeborene, und ihre ganze Hoffnung ruhte auf ihm. Franz, der von klein auf genauso angelernt worden war wie sein Bruder, setzte sich zur Freude der Eltern auf dem Hof voll ein.
Zwei Jahre später brach der große Krieg aus und Franz wurde schon bald zu den Waffen gerufen. Anfang April 1916 traf bei den Eltern die Nachricht ein, dass der Sohn nach einem Kopfschuss schwer verletzt zu Kolmar im Lazarett liege. Ohne Zögern begab sich Amal auf die beschwerliche und umständliche Reise. Sie war glücklich, als sie ihren Sohn endlich fand und sah, dass er einen relativ gesunden Eindruck machte. Obwohl er sich freute, die Mutter wiederzusehen, sagte er: »Ach, Mutter, die weite Reise hättest du dir sparen können, ich komme ja eh bald heim.«
Sehr erleichtert und beruhigt trat sie die Rückreise an. Doch schon nach wenigen Tagen traf ein schwarzumrandeter Brief bei ihr ein. Ihr Sohn habe auf dem Felde der Ehre eine so schwere Verletzung davongetragen, dass er dieser später im Lazarett erlegen sei. Man kann sich vorstellen, dass die Trauer seiner Eltern grenzenlos war. Außer dass sie ihren geliebten Sohn und Hoferben verloren hatten, bekümmerte sie der Gedanke, dass er in Feindesland begraben werden sollte. Deshalb setzte Amal Himmel und Erde in Bewegung, damit er nach Hause überführt werden konnte. Neben aufwendigem Schreibkram erforderte dies auch eine organisatorische Meisterleistung. Das Streckennetz der Bahn war schließlich noch nicht so ausgebaut wie heute. Außerdem war Krieg. Dank ihrer Hartnäckigkeit schaffte es Mutter Amal, den gefallenen Sohn nach Hause zu holen. Im Zinksarg kam er in Wasentegernbach an, der nächstgelegenen Bahnstation 17 Kilometer von ihrem Hof entfernt. Also spannten die leidgeprüften Eltern beide Rösser vor den Erntewagen und holten den Sohn persönlich dort ab.
Unter großer Anteilnahme der Bevölkerung wurde er im Familiengrab, also in Heimaterde, beigesetzt. Gefangen in ihrer Trauer brachten sich die Eltern den ganzen Sommer über mehr schlecht als recht voran. Doch als das Frühjahr nahte, wurde ihnen bewusst, dass sie für ihren verwaisten Hof jemanden brauchten, der ihn weiterführte.
An einem Sonntag Anfang April machte sich Amal auf den Weg zu ihrer Schwester Theresia, die eine gute Fußstunde von ihr entfernt auf Thannöd wohnte. Sie hatte einen Stall voller Kinder und würde gewiss froh sein, so dachte Amal, wenn sie eines davon bei ihr auf Steinöd unterbringen konnte. Dass sie sich auf keinen von Theresias Söhnen Hoffnung zu machen brauchte, war Amal klar. Der älteste Sohn ihrer Schwester, der ebenfalls Leonhard hieß, war 18 Jahre alt und würde den elterlichen Hof übernehmen. Martin, der zweite Sohn, 17 Jahre alt, war so gescheit, dass man ihn nach Eberswalde bei Berlin geschickt hatte. Dort wohnte er bei Verwandten seiner Mutter, um das Gymnasium besuchen zu können. Amal spekulierte also auf eine ihrer Nichten. Warum sollte ein Madl nicht einen Hof übernehmen können?
Theresias Dirndln waren alle bildhübsch, daher war es egal, welche sie zu sich nahm, es fände sich gewiss bald ein Hochzeiter, der außer ihrer Hand auch gerne den Hof übernehmen würde.
Über Amals Besuch freute man sich im Hause der Schwester sehr. Aufgrund der großen Entfernung und weil jegliche Verkehrsanbindung fehlte, trafen sie sich nur selten. Das letzte Mal hatte man sich am Grab von Franz, Amals gefallenem Sohn, gesehen.
Beim Mittagessen trug Amal vor versammelter Familie ihr Anliegen vor. Wer darauf sofort begeistert reagierte, war Elisabeth, erst 13 Jahre alt.
»Was will ich denn mit dem Kind?«, fragte die Tante ablehnend. »Auf unserem Hof brauche ich eine erwachsene Person, eine, die mit Pferden umzugehen weiß und mit Ochsen.«
Obwohl die Kleine versicherte, dass sie sich das durchaus zutraue, nahm die Tante sie nicht ernst. Sie wandte sich direkt an Theres, die älteste Tochter ihrer Schwester, die mit ihren zwanzig Jahren fast erwachsen war. Außerdem war diese von stabilem Körperbau, sodass man annehmen konnte, dass sie mit schweren landwirtschaftlichen Arbeiten zurechtkam.
Leider zeigte Theres wenig Begeisterung. Sie druckste herum: »Ja, ich weiß net. So weit weg von daheim. Mit Pferden hab ich es net so.«
Um ihr die Sache schmackhaft zu machen, lockte Amal: »Schau, Theres, daheim hab ich ein schönes Sach. Auf dem wirst du Bäuerin, sobald du einen Ehemann gefunden hast.«
Selbst diese Aussicht konnte das Mädchen nicht dazu bewegen, mit der Tante auf den Hof zu gehen. Nun sah sich Mutter Theresia genötigt, nachzuhelfen: »Sag doch nicht gleich nein, Dirndl. Schau dir den Hof doch erst mal an. Vielleicht gefällt es dir dort sogar. Und wenn nicht, kannst jederzeit heimkommen.«
Also trottete Theres unlustig neben der Tante her nach Steinöd. Nach vier Wochen wanderten Tante und Nichte wieder in die entgegengesetzte Richtung. Ob es nur das Heimweh war, das die Theres nach Hause trieb, ob ihr die Arbeit nicht gefiel oder ob sie sich mit der Tante nicht verstanden hatte, ist nicht überliefert. Fest steht nur, dass nun Amal, das Patenkind von Tante Amal, die zweite Tochter von Theresia, die ein Jahr jünger war als ihre Schwester Theres, nach gutem Zureden mit nach Steinöd ging. Sie blieb immerhin dreieinhalb Monate, obwohl sie am liebsten schon nach wenigen Tagen umgekehrt wäre. Sie wollte aber Onkel und Tante während der Heu- und Getreideernte nicht im Stich lassen.
Ebenso wie ihre Schwester war Nichte Amal von Heimweh geplagt. Vielleicht spielten auch noch andere Gründe eine Rolle, dass sie so schnell aufgab. Die Sache mit dem Heimweh scheint aber tatsächlich bei beiden Schwestern der Hauptgrund gewesen zu sein, denn sie haben nie geheiratet, obwohl sie Verehrer genug gehabt hatten.
Endlich schlug Elisabeths große Stunde. Als Tante Amal mit Nichte Amal Ende August wieder auf Thannöd erschien, erklärte sie ihrer Schwester Theresia: »Jetzt wird mir nichts anderes übrig bleiben, als doch das Kind zu nehmen.«
Darauf entgegnete ihre Schwester: »Da machst du keinen Fehler. Wenn die Elisabeth auch erst 13 ist – sie schafft wie eine Alte. Und vor allem: Sie geht gut und gerne mit Rössern um und wird nicht vor Heimweh sterben.«
Frohgemut wanderte die kleine Elisabeth mit der Tante munter plaudernd gen Steinöd. Mit ihr hatte die Bäuerin endlich den richtigen Griff getan, wie sie bald feststellte. Sie hat es niemals bereut, das »Kind« auf den Hof geholt zu haben. Auch Onkel Hardi, ihr Mann, zeigte sich sehr zufrieden mit ihrer Wahl.
Elisabeth arbeitete sich schnell ein, ging mit den Pferden um wie ein Rossknecht und zeigte sich auch bei allen anderen bäuerlichen und hausfraulichen Tätigkeiten von der besten Seite.
Im Frühjahr darauf, Elisabeth war mittlerweile 14, gab ihr Amal den Auftrag, die »Nuhn«, wie man bei uns die Sau nennt, zum Eber zu führen. Bisher war das immer Hardis Aufgabe gewesen. Doch seit dem Tod seines zweiten Sohnes kränkelte er und traute sich den weiten Fußmarsch nicht mehr zu. Zu dem Bauern, der den Eber hatte, war es fast eine Stunde zu gehen, dabei musste man durch den Zuckermantel-Wald. Unerschrocken machte sich das Mädchen auf den Weg, die Sau vor sich hertreibend. Wie aus dem Nichts stand plötzlich ein wildfremder Mann vor ihr und versperrte ihr den Weg. Sie bekam einen gewaltigen Schreck, denn so einen Menschen hatte sie noch nie gesehen. Er trug ungewöhnlich langes, zerzaustes Haar und einen struppigen, schwarzen Vollbart, sodass von seinem Gesicht kaum etwas zu erkennen war. Nur die schwarzfunkelnden Augen unter den buschigen Augenbrauen fielen Elisabeth auf. Dieser Mann war auch nicht gekleidet wie ein Bauer, sondern trug einen Kittel, der ehemals blau gewesen sein musste, mit bunten Bordüren am Halsausschnitt, an den Handgelenken und am Saum.
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