Aber wer weiß?, dachte Christina und spülte sich das Shampoo aus dem Haar. Vielleicht änderte sich ja ihr Geschmack. Oder ging es nur um Sex? Sie hatte Lust, die Hände über Nicks trainierten Oberkörper mit der glatten, hellbraunen Haut gleiten zu lassen, die er bestimmt regelmäßig mit Wachs enthaaren ließ. Sie mochte seine weißen, regelmäßigen Zähne mit dem kleinen Zwischenraum zwischen den Vorderzähnen, und sie hatte eine geradezu unbändige Lust, mit ihren Händen durch seine kurzen, hellen Stoppeln auf dem Kopf zu fahren. Seine tiefblauen Augen hatten einen so herzlichen Ausdruck, wenn er sie ansah. Wieso hatte sie das nicht schon früher bemerkt?
Christina stellte das Wasser ab und trocknete sich sorgfältig ab, wobei sie versuchte, nicht die anderen Frauen in dem engen Raum anzustarren. Die wenigen Mädchen, die dieses kleine Studio nutzten, waren ganz anders als diejenigen, die sie aus dem Umkleideraum ihrer Schule kannte. Beinahe alle Frauen hier hatten verdächtig langes und dichtes Haar, als ob sie es künstlich verlängert hätten. Die meisten hatten mindestens eine Tätowierung, und es war offenbar vollkommen normal, an den Brustwarzen oder den Schamlippen gepierct zu sein. Dazu kam, dass zumindest eine von ihnen künstliche Brüste hatte. So etwas hatte Christina noch nie gesehen. Jedenfalls nicht bewusst.
Sie drehte ihnen den Rücken zu, als sie ihren BH anzog. So sahen die Frauen also aus, die Nick normalerweise kannte. War eine Exfreundin von ihm darunter? Oder vielleicht sogar mehrere? Christina hoffte es wirklich nicht. Wenn er auf diese Frauen stand, waren ihre Chancen bei ihm gleich null. Andererseits wäre es doch durchaus möglich, dachte sie, dass auch er an ihr Gefallen fand, so wie sie von dem von ihr bisher bevorzugten Typ des Studenten der Geisteswissenschaften zu einem solarienbraunen Bodybuilder wechseln konnte. Christina schaltete den Föhn ein.
Nick wartete im Windfang an der Eingangstür auf sie. Seine schwarze Nylontasche stand auf dem Boden. Er selbst lehnte an der Wand und schrieb eine SMS.
»Hej«, sagte er und blickte auf.
»Danke für deine Tipps.«
»Ist schon okay.«
»Nein, echt. Darf ich dir einen Kaffee ausgeben?«
»Ich muss nach Hause und mit Stalin Gassi gehen. Das habe ich heute Morgen nicht mehr geschafft.«
»Na ja, dann …« Christina versuchte, ihre Enttäuschung zu verbergen.
»Du kannst ja mitkommen, wenn du magst.« Nick drückte auf »Senden« und steckte das Handy in die Jackentasche. »Du bist doch auch mit dem Rad hier, oder?«
Sie nickte. »Wo wohnst du denn?«
»Draußen in Violparken. Ist ein ziemliches Stück.«
»Okay.«
Es fing an zu schneien, und sie beeilten sich. Sie fuhren hintereinander, sie vorn. Große, schwere Flocken fielen und schmolzen, sowie sie auf den Asphalt, die Haut oder die Kleidung trafen. Ausnahmsweise war Christina froh über ihren Fahrradhelm. Mal sehen, wie Nicks Hund so ist, dachte sie und hielt den Kopf ein wenig gesenkt, damit der Helm ihr Gesicht vor den Schneeflocken abschirmte. Sie wusste, dass Stalin eine Mischung aus einer amerikanischen Bulldogge und einem Pitbull war – beides Hunderassen, die man in Dänemark erst kürzlich verboten hatte. Bestimmt war er potenziell gefährlich. Auf der anderen Seite hatte Nick ihn unglaublich gern.
Christina hatte in der Schule einige Mitschüler gehabt, die in Violparken wohnten, daher kannte sie die Betonbauten. Trotzdem war sie einigermaßen entsetzt, als sie ihre Räder in einen Keller stellten, der nach Urin und noch Schlimmerem stank. Der Aufgang war mit Graffitis übersät und der Gestank fast noch schlimmer als im Keller.
»Fuck«, sagte Nick und verzog das Gesicht. »Ich glaube, irgendjemand hat hier reingekotzt. Was für eine Sauerei.«
Der Hund wackelte mit seinem ganzen kompakten Hinterteil, als sie die Wohnung betraten.
»Ich gehe gleich mit ihm runter«, erklärte Nick.
»Soll ich nicht mitkommen?«
»Doch nicht bei diesem Wetter. Er soll nur schnell kacken, wir nehmen ihn später auf einen richtigen Spaziergang mit, wenn es aufgehört hat zu schneien. Nimm dir was zu trinken, wenn du magst.«
Christina zog ihre nasse Jacke aus und legte sie auf einen Stuhl in der Küche. Sie sah sich um. In den Schränken sah sie nichts Essbares, abgesehen von einem Zweikilobehälter mit Proteinpulver, einigen Gläsern mit Vitaminpillen und Nahrungszusätzen. Es gab weder Kaffee noch Tee. Christina schaute in den Kühlschrank in der Hoffnung, eine Cola zu finden. Aber nein. Ein paar Dosen Thunfisch, zwei Blumenkohlköpfe, drei Behälter mit fertig gemixtem Proteindrink und ein Päckchen Putenbrust war alles, mehr gab es nicht. Sie ließ sich ein Glas Wasser ein und steckte den Kopf ins Schlafzimmer. Die Gardinen waren zugezogen, das Bett war nicht gemacht, die Luft stickig und verbraucht. Hastig zog sie die Tür zu und ging wieder ins Wohnzimmer.
Sie trat ans Fenster. Es gab einen Balkon, der, abgesehen von ein paar Zentimetern Schnee, leer war. Vielleicht bleibt er ja diesmal liegen, dachte Christina und stellte sich auf die Zehen, um zu sehen, ob sie Nick und Stalin unten auf dem Parkplatz ausmachen konnte. Sie hätte jetzt wahnsinnig gern eine Zigarette geraucht und überlegte, ob sie sich auf den Balkon stellen sollte. Sie ließ es sein. Nick hasste den Geruch von Rauch, und sie hatte keine Lust auf Ärger, wenn er gleich zurückkam. Langsam begann sie, ihre Bluse aufzuknöpfen.
»Ich finde, wir sollten gleichzeitig mit ihnen reden.« Frank Janssen hängte seinen Mantel an den stummen Diener. »Ich habe zwei Streifenwagen gebeten, sie aufs Präsidium zu bringen, um sie ein bisschen aus der Ruhe zu bringen. Wir verhören sie in getrennten Räumen. Du übernimmst Holkenfeldt, ich die Johnstrup.«
»Gut.« Pia Waage legte den Telefonhörer auf. »Ich habe noch einmal mit dem Hotel gesprochen. Sie sind sicher, dass die Spanier aus Suite 867 am Donnerstagabend im Restaurant gegessen haben. Die Mahlzeit wurde auf die Zimmerrechnung geschrieben, sie haben sogar eine Unterschrift, die wir ihnen zeigen können, falls es notwendig sein sollte.«
»Persönlich hast du die Spanier noch nicht erreicht?«
»Nein.«
»Dann warte noch. Wenn die beiden Turteltauben zugeben, dass das Treffen in der Suite eine reine Erfindung war, gibt es keinen Grund, die spanische Polizei zu behelligen, um eine Bestätigung zu bekommen.«
»Okay.« Pia sah ihren Chef an, während sie sich eine Tasse Kaffee einschenkte. »Torp hat gerade angerufen.«
Frank sah sie an. »Am Samstagmorgen? Was wollte er denn?«
»Nur hören, wie es läuft.«
»Und was hast du gesagt?«
Pia zuckte mit den Schultern. »Was sollte ich schon groß sagen? Dass wir gut ohne ihn zurechtkommen?«
»Er wäre sicher gern dabei.«
»Ganz bestimmt. Aber da können wir nicht viel machen.«
Frank setzte sich an einen freien Computer und loggte sich ein.
»Wie ist die Obduktion denn gelaufen?«, erkundigte sich Pia nach einigen Minuten.
»Gut.« Frank blickte auf. »Sehr gut sogar.«
»Ist er gut, der neue Rechtsmediziner?«
»Kim Larsen-Jensen heißt er. Macht einen sehr kompetenten Eindruck und hat nicht so viel zu meckern wie Giersing. Aber das kann natürlich noch kommen.«
»Du siehst blass aus.« Pia lächelte.
»Ich werde mich nie an Obduktionen gewöhnen. Leider.«
»Ist denn etwas Neues herausgekommen?«
Frank nickte. »Sechs Stichwunden im Brustkasten, eine im Oberarm, zwei am Hals, sieben kleinere und etwas größere Schnitte an den Händen und Unterarmen. Die Todesursache war Verbluten durch eine der Wunden am Hals. Sie ist tief und hat die Halsschlagader durchtrennt, während die Stiche in der Brust vergleichsweise oberflächlich sind. Die haben ihn nicht getötet.«
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