»Moment! Wir brauchen ein paar Fotos.«
Bauer war schon im Anhänger verschwunden. ›Helm‹ quiekte und es war nicht zu unterscheiden, ob das jetzt ängstlich oder erfreut geklungen hatte.
Man hörte Geräusche: Ein Strick wurde durch eine Öse gezogen, Trampeln war zu vernehmen und danach erschien Bauers Fuß auf der Anhängerrampe.
»Sind Sie bereit, Herr Fotograf?«
Trotz der kühlen Witterung schwitzte Schranz. Er wollte unbedingt ein gutes Foto schießen. Beim letzten Weihnachtsmarkt in Crailsheim hatte er sich extra für das Fotografieren im Winter Handschuhe gekauft, deren Fingerkuppen abgeschnitten worden waren. So konnte er den Druckpunkt des Auslösers seiner Canon spüren, auch wenn der metallene Knopf bereits eiskalt war.
Schranz drückte auf den Auslöser, diesmal war er zu früh dran und es würden sicherlich nur die Füße zu sehen sein. Aber er schoss noch weitere Aufnahmen, sodass eine kleine Bilderserie entstand, wie ›Helm‹ hohenlohischen Boden betrat.
Schön sah er aus, dieser ›Helm‹. Der Blitz erhellte seine schwarzen und weißen Hautfarben in der Dunkelheit und sie traten noch deutlicher zutage. Er war sehr kräftig, ein Laie würde vielleicht sogar fett sagen, und seine Ohren hingen lustig nach vorne. Wenn er allerdings ein Geräusch zu hören glaubte, dann spitzte er das eine Ohr kurz, wobei das andere Ohr schlaff hängen blieb. Ein witziger Anblick.
›Helm‹ schien die Fahrt gut überstanden zu haben: Er zeigte weder Angst, als er die Rampe des Anhängers hinunterlaufen musste, noch Sorge, wohin ihn denn nun sein neuer Herr führen würde. So ging Bauer voraus, und ›Helm‹ folgte ihm. Er war an einen ungefähr einen Meter langen Strick angebunden.
Quer über den Parkplatz ging es durch das hohe, metallene Gartentor Richtung Stall. Unweigerlich hatte Schranz sofort wieder diesen typischen Geruch in der Nase, diesmal allerdings freute er sich beinahe, hier sein zu dürfen. Alles verlief so harmonisch, auch das Tier schien glücklich zu sein. Es fühlte sich offensichtlich wohl.
*
14. Januar 1985
Der Bericht über ›Helm‹ hatte viel Beachtung gefunden. Martens hatte seinen Mitarbeiter für die guten Bilder gelobt. Das war zum ersten Mal vorgekommen, sonst bezeichnete der Chefredakteur seine Bilder oftmals als ›suboptimal‹.
Martens war von einigen wichtigen Leuten, so seine Vermutung, in positiver Weise auf die Berichterstattung über das SHL angesprochen worden und bestellte ihn zu sich ins Büro, um ihm zu eröffnen, dass er ab sofort ein um 20 Prozent höheres Honorar und auch deutlich mehr Aufträge bekommen würde. Es gab nur lobende Worte, was Schranz etwas beunruhigte, als er mit seinem Golf nach Hause fuhr. Lob machte ihn immer misstrauisch.
Der Anstieg nach dem Dorf Alexandersreut in Richtung Bernau war tagsüber nicht mit Salz abgestreut worden, sodass es nun bei Einbruch der Dunkelheit und Rückkehr des Nachtfrostes gefährlich glatt geworden war. Schranz verlangsamte seine Fahrt und fuhr untertourig im dritten Gang, um den Anstieg ohne Rutschpartie zu bewältigen. Hoffentlich fuhr ihm jetzt kein anderes Auto entgegen, dazu noch mit hoher Geschwindigkeit, es würde zwangsläufig einen Unfall geben.
Mühevoll erhellten die Scheinwerfer des Golfs die schmale Straße durch den hohen Wald, ihm war fast ein wenig unheimlich. Wie schön war diese Fahrt dagegen im Sommer!
Erleichtert kam er zu Hause an, er ahnte bereits, dass ihn jetzt ein kaltes Haus empfangen würde. Niemand hatte in den letzten vier Stunden Holz im Kachelofen nachgelegt. Und da es keine andere Heizung in seinem Haus gab, stellte er sich schon einmal auf eine mindestens einstündige Kältephase ein.
Als er die Haustüre aufschloss, sprang Gipsy ihm freudig in die Arme. Im Hintergrund schien gerade jemand zu sprechen, es musste der Anrufbeantworter sein. Schranz eilte in seine Richtung, aber er hörte nur noch die letzten beiden Worte.
»Richtung Jagstzell.«
Es war Martens, und seine Stimme klang sehr aufgeregt.
Schranz drückte die Playtaste.
»In Stimpfach brennt ein Bauernhof. Großeinsatz von Feuerwehr und Polizei. Fahren Sie schnell hin. Kein Zeilenlimit, ein bis zwei Fotos. Liegt Richtung Jagstzell.«
Der Ofen war nur noch Nebensache, aber Gipsy wollte er nicht alleine zurücklassen. So öffnete er kurz die Heckklappe seines Autos, und der Hund sprang dankbar hinein.
Ein Glück, dass es wenigstens nicht in Alexandersreut brannte. Diese gefährliche Strecke brauchte er nicht zu fahren, Stimpfach lag in der anderen Richtung.
Als Schranz eintraf, schlugen aus dem Stall des Hofes hohe Flammen. Dicker, beißender Qualm stieg auf, das Wohnhaus, das rund 30 Meter davon entfernt lag, schien unversehrt. Menschen rannten wild durcheinander, sie wollten wohl möglichst viele Tiere aus den Flammen retten. Die Feuerwehr versuchte, aus der nahen Jagst eine Standleitung für das Löschwasser zu erstellen, aber momentan war noch kein Wasser aus dem Schlauchende getröpfelt. Der ebenfalls bereits eingetroffene Löschzug schien sein Wasser schon verbraucht zu haben.
Es war eine Szenerie aus lauten Rufen, spitzen Schreien und Gebrülle von Kühen. Schweine schien dieser Bauer keine zu halten.
Der Journalist baute sein Stativ auf, steckte den großen Blitz auf das Kameragehäuse, was diesmal trotz der Kälte erstaunlich schnell ging. Er drückte mehrmals auf den Auslöser, um nach dem Entwickeln der Bilder wieder eine vernünftige Auswahl an Bildmaterial zu haben.
Als er die letzte Aufnahme machte, erhellte der Blitz eine merkwürdige Situation. Ein weiß-schwarzes Schwein trottete über den Hof, mitten hindurch durch das ganze Gewühl an Menschen und Tieren. Von niemandem angeleint, von keinem fortgescheucht. Einfach ruhigen Schrittes heraus aus dem Getümmel in Richtung Sicherheit und an die frische Luft.
Der Einsatzleiter der Feuerwehr trat neben Schranz. Die beiden kannten sich von einigen früheren Einsätzen.
»Hallo Chris!«
Schon beim ersten Zusammentreffen hatten sie sich geduzt, das war wohl bei der Feuerwehr so üblich.
»Hallo Markus, habt ihr alles im Griff?«
»Ja, kein besonders schlimmer Fall. Menschen waren keine gefährdet, nur der Stall hat angefangen zu brennen. Vom Großvieh konnten wir alle Kühe retten, auch ein junges Kalb. Das hätte bei den Schweinen ebenfalls funktioniert, aber die waren schon tot, als wir gekommen sind.«
»Echt? Warum denn das?«
»Ach, sicherlich wie bei den meisten unserer Brände. Die Schweine sind so stressempfindlich. Wenn es da zu brennen anfängt, bekommen sie einen Herzinfarkt und fallen tot um. Auch waren es hier nur 10 Schweine, der Bauer wird es verkraften können.«
Aber ein Schwein hatte überlebt, dessen war sich Schranz sicher. Es müsste auch auf einem der Fotos zu sehen sein.
*
16. Januar 1985
Es sah schon komisch aus. Ein weiß-schwarzes Schwein lief seelenruhig durch ein wüstes Chaos aus Feuerwehrschläuchen, durchhastenden Menschen und einem brennenden Stall. Martens hatte genau dieses Bild ausgewählt, um den Brand in Stimpfach zu dokumentieren. Und da gerade wieder einmal eine nachrichtenarme Zeit war, zierte es sogar die Titelseite der Zeitung. Menschen waren bei diesem Brand tatsächlich keine zu Schaden gekommen, die Bauern hatten nur einen leichten Schock erlitten.
Schranz las die Zeitung in Ruhe, und auch in der Küche spürte man, wie sich langsam aber sicher die Wärme des nun wieder laut vor sich hinknisternden Kachelofenfeuers im ganzen Haus ausbreitete. Das war ein gewisser Nachteil des Holzofens. Morgens war er zwar noch warm, aber bei minus 15 Grad Außentemperatur brauchte es ungefähr eine Stunde, bis die Zimmertemperatur wieder über 18 Grad lag.
Gipsy hatte sich auf die Zehenspitzen von Schranz gelegt, bei diesem Wetter eine willkommene Wärmflasche. Nächsten Sommer wollte der junge Journalist, in Absprache mit seinen Vermietern, das Thema Isolierung angehen. Das Fachwerk ließ durch sein Mauerwerk ziemlich viel Kälte ins Haus hinein. Schranz registrierte, wie sich auch an diesem Morgen der Vorhang vor dem Küchenfenster leicht im Lufthauch bewegte. Er ahnte bereits, dass das Fachwerk an der Außenseite auf jeden Fall sichtbar bleiben sollte. Dann blieb scheinbar nur die Innenseite zur Isolation. Aber auch davon hatte ihm eine Expertin abgeraten.
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