1 ...6 7 8 10 11 12 ...16 Uranos - Himmel in Göttergestalt,
erster Herrscher über die Welt,
Erstgeborener der Gaia
Am nächsten Morgen war ich spät dran, da ich vergessen hatte, meinen Wecker zu stellen. Ich war müde und die Panikattacke von gestern steckte mir noch in den Knochen. Außerdem hatte mich in der Nacht ein altbekannter Albtraum geplagt und ich war schweißgebadet aus dem Schlaf erwacht. Delilah war auch nicht besonders hilfreich, sie wartete ungeduldig an der Haustür und tippte nervtötend mit der Schuhspitze auf den Boden, während ich meine Jacke anzog. Was für eine furchtbare Person.
Als wir im Auto saßen und außer Hörweite ihrer Eltern waren, sagte sie: »Das nächste Mal, wenn du so spät bist, lass ich dich einfach stehen. Dann kannst du schauen, wie du zur Schule kommst. Hörst du?«
»Mach nur. Aber ich glaube, deine Eltern wären darüber nicht so begeistert.«
»Drohst du mir?«, fragte sie ungläubig.
»Du drohst doch mir, Delilah. Glaub bloß nicht, dass ich mich einschüchtern lasse«, fauchte ich.
Meine guten Vorsätze, sie einfach nicht zu beachten, waren schwerer einzuhalten als gedacht.
Ich biss die Zähne zusammen und gab mein Bestes, meine Emotionen im Zaum zu halten. Zwar ließ ich mich von ihr nicht fertigmachen, aber sie machte mich wütend. Ich knirschte mit den Zähnen, um ihr nicht noch einen patzigen Spruch an den Kopf zu knallen. Plötzlich wehte ein heftiger Windstoß durch das offene Autofenster und brachte Delilahs Frisur durcheinander.
Sie schaute mich böse an, als wäre es meine Schuld, sagte aber zum Glück nichts mehr. Ich war mir dennoch nicht sicher, ob das Thema schon erledigt war. Delilah war sicher kein Mädchen, das so was auf sich sitzen lassen würde. Sie plante wahrscheinlich schon ihre Rache und leider musste ich eingestehen, dass ich mich auch nicht sehr viel netter verhielt.
Jenna und Megan waren derselben Meinung, nachdem ich ihnen in Mathe davon erzählte. Megan schien sich allerdings mehr über unsere Auseinandersetzung zu freuen, als sich Sorgen um mich zu machen.
»Endlich jemand, der ihr die Stirn bietet. Delilah hat es dringend nötig, dass sie mal in ihre Schranken gewiesen wird. Danke, Clara. Du hast ja keine Ahnung, was für eine Genugtuung du mir damit verschaffst.«
Beim Reden flogen ihre Hände wild durch die Luft und sie unterstrich jedes Wort mit einer Geste, dabei hüpften ihre Locken auf und ab und sie grinste uns breit an. Jenna zuckte nur mit den Schultern, als ich sie verblüfft anschaute, als wollte sie sagen: Tja, so ist sie halt.
»Versprich mir, dass du ihr eine verpasst, wenn sie dich wieder dumm anmacht. Also verbal meine ich. Natürlich. Du sollst sie ja nicht schlagen. Was macht ihr eigentlich am Wochenende? Meine Eltern schleppen mich wieder zu so einem Guru in die Berge, damit wir unsere Seelen von den Strahlungen reinigen können oder so. Nach dem letzten Mal hatte ich fast eine Woche Verstopfung, hoffentlich passiert das nicht wieder. Das ist echt nervig, kann ich euch sagen. Also nicht die Verstopfung, sondern das Wochenende irgendwo in der Pampa des Tillamook State Forest. Obwohl die Verstopfung auch nervig war.«
Ich hatte Schwierigkeiten Megans abrupten Gedankensprüngen zu folgen, doch da sie keine Antwort von uns zu erwarteten schien, ließ ich sie weiterreden und meine Gedanken wanderten zu dem seltsamen Ereignis von gestern Nachmittag. Ob da wirklich jemand gewesen war, der mich berührt hatte? Beinahe fühlte ich wieder die Hände auf mir. Es schüttelte mich am ganzen Körper und nur mit Mühe schaffte ich es, nicht die Arme um mich zu schlingen und mich nervös umzusehen. Einerseits hoffte ich, sie mir nur eingebildet zu haben, aber auf der anderen Seite hätte es mir Angst gemacht, wenn meine Fantasie mir so lebhafte Streiche spielen konnte.
»Alles in Ordnung, Clara?«.
Jenna berührte mich sanft am Oberarm und ich zuckte erschrocken zusammen. Ohne es gemerkt zu haben, war meine Hand zu meiner Wange gewandert und hatte die Stelle betastet, an der ich gestern vermeintlich eine Berührung gefühlt hatte.
»Ja, alles gut«, versicherte ich ihr leise, vermied es aber in ihre Augen zu schauen.
»Kommt, wir müssen uns beeilen, sonst kommen wir zu spät zu Mister Vernon.«
In den folgenden Tagen hielt ich möglichst viel Abstand zu Delilah und verbrachte die Mittagspausen mit Jenna und Megan. Mein Wunsch schien sich zu erfüllen, denn die beiden ließen sich von meinem oft sehr verschlossenen Verhalten nicht abschrecken und setzten sich im Unterricht immer an die Tische neben mir. Während Megan meistens die Alleinunterhalterin spielte und von ihrer verrückten, alternativen Familie erzählte, lächelten Jenna und ich uns, über den Tisch in der Cafeteria hinweg, an. Zu ihr fühlte ich eine besondere Bindung und war, wegen ihrer ruhigen und einfühlsamen Art, gerne in ihrer Nähe. Manchmal verspürte ich den Wunsch, mich ihr anzuvertrauen, doch dann plagten mich die Zweifel, ob ich sie damit verschrecken würde. Auch vom Meer hielt ich mich fern, denn den Montagnachmittag hatte ich noch nicht ganz verarbeitet und konnte auf weitere Anfälle gut verzichten.
Ich lernte, las, traf mich hin und wieder mit Megan und Jenna in der Eisdiele im Städtchen und verbrachte ungewöhnlich viel Zeit mit Dan im Garten. Er war richtig naturbegeistert und pflegte im Garten, hinter unserem Haus, besondere Blumenarten und hatte sogar ein kleines Gewächshaus, in dem er gerade versuchte Tomaten und Radieschen zu ziehen. Er brauche das als Ausgleich zu seiner Arbeit im Krankenhaus, erzählte er mir, als wir Setzlinge umtopften und bewässerten. Die Luft im Gewächshaus war feucht und meine Haare klebten mir im Gesicht, aber die Arbeit mit den Pflanzen machte mir Spaß. Ich war überrascht, wie gut ich mit Dan zurechtkam, obwohl ich mich manchmal noch unwohl fühlte, wenn ich ihm den Rücken zukehrte und nicht sehen konnte, was er hinter mir machte.
Mein Leben wäre also vollkommen ruhig gewesen und Delilah hätte mich vermutlich für den Rest meines Lebens in Frieden gelassen, wenn da nicht Grayson Johnson gewesen wäre.
Ich begegnete dem gutaussehenden Footballspieler am Mittwochnachmittag, gut eine Woche nach dem Tag am Strand, vor der kleinen Eisdiele am Eck. Er rannte praktisch in mich hinein und zerquetschte meine Kugel Himbeereis zwischen uns.
Ich blickte von dem rosaroten Fleck auf seinem Shirt hoch in sein Gesicht. Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich mich entschuldigen oder ihm doch lieber etwas Unflätiges an den Kopf werfen wollte. Doch da fing er an zu lachen und die Fältchen, die sich um seine Augen bildeten, waren einfach zu sympathisch, als dass ich ihm wirklich böse sein konnte.
»Wow, tut mir leid! Da war ich wohl etwas zu schnell unterwegs, hab dich einfach übersehen.«
Seine Stimme war tief und angenehm. Irgendwie wusste ich sofort, dass der Typ vor mir nur Grayson Johnson sein konnte und musste im Stillen zugeben, dass er wirklich gut aussah, mit seinen blonden Haaren und den nussbraunen Augen, die mich jetzt belustigt anfunkelten. Vermutlich hätte ich Herzklopfen bekommen müssen, wie die anderen Mädchen, aber in mir rührte sich nichts.
Natürlich fand ich ihn attraktiv, schließlich war ich nicht blind, aber das war auch schon alles. Er machte mich nicht nervös und kichern, wie andere Mädchen es in der Nähe von gutaussehenden Jungs taten, wollte ich schon zweimal nicht. Ich war nur froh darüber, dass der Körperkontakt zwischen uns nicht länger als ein paar Sekunden gedauert hatte. Also lächelte ich ihn einfach nur an und trat zur Seite, um ihm den Weg frei zu machen.
»Du kannst mir ja ein neues kaufen, Flash«, sagte ich betont fröhlich und hoffte, dass er die Comic Anspielung verstand.
Er grinste nur, machte aber keine Anstalten sich zu bewegen.
»Bist du nicht Lilas Adoptivschwester?«, fragte er stattdessen.
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