Ich war wütend, auf sie, auf mich, auf Mom. Aber vor allem auf mich. Mom war schon aus dem Haus und Dan schlief noch, da er Spätschicht im Krankenhaus hatte.
Mir blieben also nur zwei Optionen, laufen oder mit dem Fahrrad fahren, doch egal wie ich mich entschied, ich würde zu spät kommen. Vielleicht sollte ich mit dem Fahrrad in die Stadt fahren und versuchen von dort den nächsten Bus zu erwischen. Doch der heutige Tag sollte wohl noch schlimmer werden als der gestrige. Als ich den Drahtesel aus der Garage holte, bemerkte ich den platten Hinterreifen und stöhnte vor Frustration laut auf.
Also doch laufen. Genervt schulterte ich meine Tasche, steckte meine Haare noch mal mit der Haarnadel fest und stapfte los, den Weg kannte ich ja mittlerweile.
Mit jedem Schritt wurde ich wütender. Delilah konnte sich was anhören nachher. Vielleicht würde ich ihr mein Mittagessen überkippen, dann fühlte ich mich bestimmt besser, aber auch schlechter. Oder ich ließ es einfach auf sich beruhen und hoffte, dass wir nun quitt waren.
Leider befürchtete ich, dass sie noch nicht mit mir fertig war. Ich schaute auf die Uhr und stöhnte genervt auf. Wenn jetzt nicht gleich ein Wunder geschah, war ich echt aufgeschmissen. Eigentlich war es ein herrlich warmer Spätsommertag. Die Sonne hing lachend am wolkenlosen Himmel, das helle Blau wurde nur von feinen weißen Flugzeuglinien unterbrochen und es roch nach frisch gemähtem Gras. Jedoch konnte nichts davon meine Stimmung heben und so ging ich blind für diese Schönheit die Straße entlang, als neben mir ein großes Auto langsamer wurde. Ein Monstrum von einem Geländewagen. Durch die getönten Scheiben konnte ich den Fahrer nicht erkennen und bekam Herzklopfen. Irgendetwas rüttelte an einer Erinnerung, die tief in mir vergraben war. Ich hatte ein Déjà-Vu, ohne zu wissen, woher es kam.
Ich war kurz davor loszurennen und das Weite zu suchen, als sich die Fensterscheibe senkte. Eine Gestalt lehnte sich über den Beifahrersitz und schaute durch das offene Fenster. Ich wich zurück, brachte Abstand zwischen mich und das Gefährt und versuchte gleichzeitig das Gesicht zu erkennen.
»Hey, guten Morgen, Iris.«
Ich kannte diese Stimme und atmete beruhigt aus. Grayson. Nur Grayson. Erleichterung machte sich in mir breit und fast hätte ich über meine eigene Angst gelacht.
»Hi, Flash«, gab ich atemlos zurück. Meine Hände zitterten leicht und ich schob sie in die Jackentaschen. Ich wollte nicht, dass er sah, wie nervös mich sein Auftauchen gemacht hatte.
»Wieso läufst du?«, fragte er erstaunt.
Das Gefühl von Erleichterung wich jäh der Wut, die ich seit dem Moment verspürte, als Delilah mich versetzt hatte.
»Ach, weil die Luft so gut ist und ich keine Lust auf Mathe habe«, gab ich patzig zurück. Wenn er mich jetzt auch noch nerven wollte, würde er meinen ganzen Ärger abbekommen.
»Hey, kein Grund gleich so zickig zu sein.«
Ich sah ihm in die Augen und schämte mich. Was war nur los mit mir? Seit ich in Rockaway Beach angekommen war, stimmte etwas nicht mit mir. Ständig war ich jähzornig oder genervt und hatte diese innere Unruhe in mir, die sich einfach nicht verdrängen ließ.
»Es tut mir leid!«, gab ich zerknirscht zurück, »Delilah hat mich heute Morgen stehen lassen und jetzt werde ich zu spät zur Schule kommen. Ich bin einfach nicht gut drauf.«
Grayson fing an zu lachen. »Delilah hat dich stehen lassen? Oh man, sie ist echt sauer auf dich.«
Ja, ja, sehr witzig. Ich hatte keine Lust darauf, dass er sich über mich lustig machte und lief weiter.
Doch er ließ sich nicht abschütteln und fuhr im Schritttempo neben mir her.
»Was zur Hölle wird das? Fahr doch einfach weiter, ich komm schon klar«, knurrte ich. Wirklich, mit mir war echt nichts anzufangen, so wie ich mich verhielt.
»Bist du immer so zickig?«, war seine einzige Reaktion und die brachte mich fast zur Weißglut.
»Hör mal, wenn du nur jemanden suchst, um dich über ihn lustig zu machen, kannst du dich gleich wieder…«
Er unterbrach mich: »Du spinnst ja. Ich mach mich nicht lustig, ich wollte dich fragen, ob ich dich mitnehmen soll, aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher, ob ich dich im Auto haben will. Außer du hast einen Maulkorb, den ich dir umschnallen kann.«
»Ja«, rief ich. »Ich spinne. Und jetzt fahr endlich.«
Ich stampfte doch tatsächlich mit dem Fuß auf. Aber es zeigte Wirkung. Der Wagen fuhr mit einem Ruck an und verschwand hinter der nächsten Kurve.
Dumm, dumm, dumm, dumm, schimpfte ich mich selbst. Irgendwie mussten diese Stimmungsschwankungen doch in den Griff zu bekommen sein, bevor sie mich meine ganzen Nerven und potenzielle Freunde kosteten.
Am liebsten wäre ich zurück in mein Bett gerochen oder ganz von hier verschwunden. Eine Woche war ich jetzt hier und alle hatten sich gegen mich verschworen. Wie ich meine Leben gerade hasste.
Erschrocken blieb ich stehen. Graysons Wagen war hinter der Kurve geparkt und die Beifahrertür stand offen.
»Steig doch jetzt einfach ein. Ich nehme dich mit, wir müssen nicht mal reden. Aber ich kann doch nicht zulassen, dass du Mathe verpasst«, hörte ich seine Stimme aus dem Inneren des Wagens. Erleichtert stellte ich fest, dass er amüsiert klang.
Ich zögerte. Nicht etwa, weil ich lieber gelaufen wäre, sondern weil es mir Angst machte in diesen großen, dunklen Wagen zu steigen.
Ich näherte mich der Tür und überlegte fieberhaft.
Dann gab ich mir einen Ruck und sagte mir, dass schon alles gut werden würde und dass nur Grayson sei. Mit ihm zu fahren war wirklich die bessere Option.
Ich kletterte auf den Sitz und verharrte mit der Hand am Türgriff. Ich musterte Grayson, versuchte abzuschätzen, was er von mir hielt. Doch er schaute einfach nur durch die Windschutzscheibe und ignorierte mich. Ich zog fest an der Tür und sie knallte mit einem lauten Geräusch ins Schloss.
»Hee, das ist kein Panzer, Clara«, schnaubte er und schaute mich jetzt doch an.
Ich ging nicht darauf ein. Ich war damit beschäftigt, die beklemmende Angst, in der Falle zu sitzen, zu unterdrücken. Ich wurde das Gefühl nicht los, mich selbst eingesperrt zu haben.
Mit fahrigen Fingern schnallte ich mich an und umklammerte mit der Hand den Türgriff, als würde mein Leben davon abhängen. Grayson startete den Motor und mir lief ein Schauer über den Rücken.
Ruhig atmen, es ist alles okay, beschwor ich mich selbst.
Ein lautes Klicken verriet mir, dass die Zentralverriegelung geschalten hatte. Oh Gott! Ich saß in der Falle und war kurz davor in Tränen auszubrechen. Das Innere des Wagens kam mir plötzlich winzig klein und eng vor.
Ich versuchte die Melodie von ›Walk in the Sun‹ zu summen. Oh Goooott. Ich schwitzte und merkte, wie mir die Luft wegblieb. Ich zwickte mich in die empfindliche Stelle zwischen Daumen und Zeigefinger, immer wieder, es half nichts. Mir wurde schlecht. Meine Skills wirkten nicht und an den Rest meiner Skills konnte ich mich gerade nicht erinnern.
Lass mich raus, lass mich raus, flehte ich im Stillen. Oh Gott. »Lass mich raus!«, hauchte ich. »Bitte…«
Er schaute mich stirnrunzelnd von der Seite an, machte aber keine Anstalten den Wagen zu bremsen.
»LASS MICH RAUS!«, schrie ich jetzt panisch.
Ich riss an der Tür, aber das verdammte Ding ließ sich nicht öffnen. Heiße Tränen rannen mir über die Wangen und nahmen mir die Sicht. Wütend wischte ich sie weg und schnappte nach Luft. Dann schlug ich mit den Fäusten auf die Tür ein. Ich saß in der Falle. Der Sicherheitsgurt verkantete sich und ließ mir keinen Millimeter Spielraum.
»SCHEIßE!«, brüllte ich und versuchte hektisch mich abzuschnallen. Meine Finger zitterten so stark, dass ich immer wieder abrutschte. Ich saß in der Falle! Ich erstickte.
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