Beschreibungen damaliger psychotherapeutischer Methoden finden sich in teilweise ausführlichen Einzelfallschilderungen auch bei anderen Autoren wie beispielsweise von Marcus Herz (1798). Er war ein jüdischer Arzt und Philosoph und hat Psychotherapie definiert als »ein System, das die Anleitung enthält, jene ungefähre heilsame Gemüthsveränderung vorsätzlich zu veranstalten und mit Absicht jedesmal diejenige zu erregen, welche der Kur [sprich: Behandlung] des gegenwärtigen Übels angemessen ist«. Also bekommt jeder Patient seine nur auf ihn zutreffende individuelle Behandlung. Diese leitet der Arzt jeweils aus seinen Kenntnissen über die allgemeine psychische Natur des Menschen ab, wobei er gleichzeitig die Natur des Patienten und seiner Krankheit in die Überlegungen einbezieht. Marcus Herz sträubt sich ebenso wie andere Psychotherapeuten dagegen, ein Arsenal an psychotherapeutischen Techniken anzugeben, obwohl genau dies immer wieder von ihm verlangt wird. Als Marcus Herz 1791 die 2. Auflage seines zuerst 1786 erschienenen Buches Versuch über den Schwindel veröffentlichte, befand er es für notwendig, eine Entschuldigung in das Vorwort einzuflechten, warum er doch technische Anweisungen gab:
«Die Anweisung zum eigentlichen überall so leicht erlernbaren Kuriren einer Krankheit dünkte mich etwas Entbehrliches, nachdem ich ihr Wesen und ihre mannichfaltigen Ursachen (aus welchen ihre Behandlungsart sich von selbst ergiebt) so umständlich auseinander gesetzt hatte. Und, die Wahrheit zu gestehen, es dünkt mich noch eben so; aber ich konnte das innige Bemitleiden einiger gutmüthigen Recensenten und Doctoren, die es so herzlich bedauerten, daß ich meine wenigen Talente nicht auf das bloße Kurirwerk verwende, nicht ganz ruhig ertragen, und habe daher, so viel ich vermochte, ihrem Verlangen Genüge zu leisten gesucht«. (Herz, 1791)
Da Herz weite Teile der Psychotherapie in Form von Rede und Gegenrede wiedergegeben hat, ist sein Bericht auch heute noch interessant zu lesen. Er beschreibt beispielsweise das, was man heute möglicherweise als eine paradoxe Intervention bezeichnen würde. Er hatte seinen Freund Carl Philipp Moritz zu behandeln. Moritz litt wahrscheinlich an einer offenen Lungentuberkulose und wusste nicht, ob er sterben oder weiterleben werde. »Der zwischen Furcht und Hoffnung schwankende Zustand der Seele«, schreibt Marcus Herz 1791 in seinem Buch über den Schwindel, «ist von der widrigsten Wirkung auf den Körper, die zuweilen dadurch gehoben und in eine heilsame verwandelt wird, daß man den Kranken jeder guten Aussicht beraubt und ihm alle Hoffnung benimmt«. Um das Leiden an der Ungewissheit zu mildern, erklärte Herz seinem Patienten-Freund, sein Leiden sei aussichtslos und er müsse sterben. »Damit wandelte sich die Ungewißheit in die Gewißheit des Sterbens und von Stund an trat Beruhigung ein, der bald die vollständige klinische Genesung folgte«.
Herz hat auch den Königsberger Philosophen Immanuel Kant beraten. Kant erzählt in einem Brief an Christoph Wilhelm Hufeland freimütig von seiner Neigung zur Hypochondrie. Er litt unter einer ständigen Beschäftigung mit allerlei wechselnden eingebildeten Krankheiten oder vielmehr den Ängsten vor solchen Krankheiten. Hypochonder leiden an einem Übermaß an Aufmerksamkeitslenkung auf den eigenen Körper. Kant beschreibt, welche psychotherapeutische Methode er gelernt habe, was heute als kognitive Therapie angesehen würde: «Aber über den Einfluß auf meine Gedanken und Handlungen bin ich Meister geworden, durch Abwendung der Aufmerksamkeit von diesem Gefühle, als ob es mich gar nichts anginge.« Dasselbe Verfahren empfiehlt Kant bei Einschlaf- und Durchschlafstörungen. Auch der Schlafgestörte leidet unter einem Zuviel an Achtsamkeit. Kant erzählt in dem Brief auch, wie durch eine bestimmte Art, die Luft durch die Nase einzuholen, vollständig vermieden habe, Husten und Schnupfen zu bekommen. Hufeland führt bei der Veröffentlichung des Briefes in einer Fußnote an: «Unglaublich ist es, was der Mensch vermag, auch im Physischen, durch die Kraft des festen Willens.«
Die Befassung des Menschen mit seiner Psyche geht bis in die Antike zurück. In der Aufklärung wurden die Konzepte von Aristoteles und anderen neu entdeckt und zu wichtigen Ideengebern in der Entwicklung eines ganzheitlichen oder auch psychosomatischen Verständnisses des Menschen. Damit bekam die Seele neben dem Körper eine wichtige Rolle in der Entstehung seelischer wie körperlicher Leiden. Daraus folgte dann konsequenterweise die Entwicklung einer psychischen Kurmethode.
Anders als in der Antike oder auch bei Freud basierten die angewendeten Techniken noch nicht auf umfassenden Theorien, sondern waren eher pragmatisch und erfahrungsbasiert. Es finden sich teilweise große Ähnlichkeiten mit modernen symptomzentrierten verhaltenstherapeutischen Interventionen. Dennoch wird auch deutlich, dass die Entwicklung der Psychiatrie und Psychotherapie von Beginn an eng mit zeitgeschichtlichen Entwicklungen verbunden war, was bis zum heutigen Tag gilt.
2 Ideengeschichte der Psychodynamischen Psychotherapie
Annegret Boll-Klatt, Mathias Kohrs & Bernhard Strauß
2.1 Was ist »Psychodynamische Psychotherapie«?
Um die Geschichte der Psychodynamischen Psychotherapieverfahren (abgekürzt »PDV«) differenziert darzustellen, muss man mit der Psychoanalyse Freuds beginnen. Freud verwendete ab 1913 den von Eugen Bleuler eingeführten Begriff der Tiefenpsychologie, um zwischen der tiefenpsychologisch geprägten Psychoanalyse und der damals vorherrschenden bewusstseinspsychologisch geprägten akademischen Psychologie zu unterscheiden. Die zentrale Vorstellung der Tiefenpsychologie bezieht sich auf unbewusste Prozesse, die metaphorisch gesprochen unter der Oberfläche des Bewusstseins in tieferen Schichten der Psyche ablaufen und menschliches Erleben, Denken und Verhalten maßgeblich beeinflussen. Freuds herausragende Leistung besteht vor allem darin, dass er mit der Einführung der Psychoanalyse, die er ab 1890 zusammen mit seinen Schülern zunächst aus der Hypnosebehandlung heraus entwickelte, das Konzept des Unbewussten für die Therapie bestimmter Patienten nutzbar machte (Gödde, 2005). Etwa 100 Jahre später formuliert Ermann (2016, S. 455) folgende Definition:
»Der Begriff Psychoanalyse bezeichnet die Wissenschaft, welche die psychoanalytische Theorie, Methode und Behandlungspraxis umfasst. Als psychoanalytische Methode bezeichnet man das Vorgehen, mit dem der Psychoanalytiker die Manifestationen des Unbewussten im Erleben und Verhalten erforscht und für die Behandlung psychogener Störungen nutzt. Bei den Anwendungen und Modifikationen der psychoanalytischen Methode in der Psychotherapie spricht man von psychoanalytisch begründeten oder psychodynamischen Verfahren.«
Inzwischen besteht eine nahezu unüberschaubare Vielzahl von »Anwendungen und Modifikationen der psychoanalytischen Methode«; gemeinsam ist den unterschiedlichen Varianten der Hintergrund der psychoanalytischen Persönlichkeits- und Entwicklungstheorie, der Krankheits- sowie der Behandlungslehre, allerdings mit einer unterschiedlichen Praxeologie, d. h. mit einer differierenden Verwendung grundlegender Konzepte der Übertragung und Gegenübertragung, dem Umgang mit Regression und der therapeutischen Haltung. Hoffmann setzte sich mit den Grundannahmen im Menschenbild und in der Theorie einer Psychodynamischen Psychotherapie auseinander (Hoffmann & Schüßler, 1999; Hoffmann, 2000) und markiert den Unterschied zur Psychoanalyse bzw. Analytischen Psychotherapie (AP), indem er auf die grundlegende Bedeutung der Konzepte des dynamischen Unbewussten, der Abwehr, der Übertragung und Gegenübertragung verweist, jedoch die unterschiedlichen Therapietechniken hervorhebt, die stärker am Symptom orientiert sind, regressive Prozesse nur ausnahmsweise fördern, einen Gewinn an Zeit und Sitzungsaufwand intendieren sowie durchaus auch supportive und übende Elemente beinhalten.
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