Stahl hatte zahlreiche Schüler, die sein Werk erklärten oder darauf aufbauten. Dazu gehören u. a. Johann Daniel Gohl (1665–1731), Johann Christian Kundmann (1684–1751), Johann Samuel Carl (1667–1737), Andreas Ottomar Goelicke (1671–1744), Georg Daniel Koschwitz (1679–1729), Johann Juncker (1679–1759), David Samuel Madai (1709–1780), Georg Philipp Nenter (gestorben 1721), Johann Theodor Eller (1689–1760). Sie hinterlassenen viele hunderte medizinische und andere Werke.
Hervorzuheben ist Michael Alberti (1682–1757), einer der zahlreichen Pastorensöhne jener Zeit, die Deutschlands Kultur bereicherten. Er studierte zunächst die lutherische Theologie und dann in Jena Medizin. Von dort ging er nach Halle, wo er Schüler Stahls und dessen engster Anhänger wurde. Durch Stahls Veranlassung wurde er außerordentlicher Professor in Jena und später dann in Halle Professor für Physik und Leiter der botanischen Gärten. Alberti hat sich durch eine schier unendliche Fülle der von ihm präsidierten Dissertationen in die Geschichte eingetragen. Darunter sind einige, welche die Stahlsche Linie der Einwirkung der Psyche auf den Körper weiterführten.
Dazu gehört eine Arbeit von Johann Andreas Roeper (1748) mit dem Titel Die Würckung der Seele in den menschlichen Cörper. Nach Einleitung der Geschichte eines Nacht-Wanderers aus vernünftigen Gründen erläutert. Er hat auch den Stahlschen psychosomatischen Standpunkt gegenüber dem Philosophen Christian Wolff vertreten, der 1821 in einer Rektoratsrede auf die Seelenbehandlung des Konfuzianismus Bezug genommen und einen strikten Leib-Seele-Dualisten vertreten hat. Roeper hat dessen Modell als eine »unbegreifliche Lehre« bezeichnet. Er selbst ging aber dann ins andere Extrem und verlieh der Seele eine Dominanz über den Körper, da sie im Schlaf durch ihre Einbildungskraft den Körper ohne Wissen des Schläfers regieren könne.
Das alles ist noch keine Psychotherapie, aber eine wichtige theoretische Grundlage und Voraussetzung für die Herausbildung einer expliziten Psychotherapie. Stahl und seine Schüler entwickelten eine neue Perspektive ärztlichen Denkens, also eine medizinische Philosophie oder Psychologie. Auf deren Boden kam es dann zur Entwicklung einer sich ihrer selbst bewussten Psychotherapie. Dies wurde dann von weiteren Schülern Stahls umgesetzt.
1.3 Die ersten Lehrbücher der Psychotherapie
Ebenfalls ein Schüler von Stahl war Johann Christian Bolten (1727–1757). Er war ebenfalls Pastorensohn und kam aus Glückstadt an der Elbe. Er besuchte in Altona das Gymnasium und ging dann nach Halle zum Medizinstudium. 1749 hat er in Halle mit einer Arbeit De nexu metaphysices cum medicina generatim («Allgemeines über die Zusammenhänge zwischen Philosophie und Medizin«) promoviert. 1754 wurde Johann Christian Bolten Physikus (etwa: Amtsarzt, der auch Behandlungen durchführte) von Altona. 1757 ist er im Alter von nur 30 Jahren gestorben.
Zu dieser Zeit war an der Hallenser Universität ein dichtes philosophisch-intellektuelles Netz mit intensivem gegenseitigem Austausch entstanden. Bolten hat sich außer auf Stahl u.a auch auf ein Buch des nur fünf Jahre älteren Professors Ernst Anton Nicolai (1722–1802) gestützt, das 1744 unter dem Titel Gedanken von den Würkungen der Einbildungskraft in den menschlichen Körper erschienen war.
Im Jahr 1751 veröffentlichte Bolten sein Lehrbuch der Psychotherapie unter dem Titel Gedanken von psychologischen Kuren (Peters, 2017). Dieses Buch enthält alles, was man auch von einem modernen Lehrbuch der Psychotherapie erwartet, d. h. eine Definition, was Psychotherapie überhaupt ist, eine Begründung, warum Psychotherapie notwendig ist, eine Anweisung, wie man sie erlernen kann, genaue Angaben darüber, bei welchen Indikationen Psychotherapie empfehlenswert ist. Das Wort »Kur« ist damals ein medizinischer Fachbegriff, abgeleitet vom lateinischen Wort »curatio«. Es ist identisch mit »Behandlung« in unserem heutigen Sprachgebrauch. Eine »psychologische Kur« ist somit dasselbe wie »Psychotherapie«.
Bolten schreibt:
«Die Handlung, vermöge welcher statt einer Kranckheit die Gesundheit wieder hervorgebracht wird, nennet man eine Cur. Geschieht diese Handlung an der Seele, so heisset sie alsdenn eine Seelencur…. Die psychologischen Curen sind die Mittel, die bei rechtem Gebrauch derselben, am schleunigsten und am besten die Seele heilen können…. Psychologische Curen sind solche Seelencuren, die nach den Gesezzen der Natur der Seele eingerichtet sind. Wer demnach psychologisch curiren lernen will, muß sich um die Erlernung der Gesezze der Natur der Seele bekümmern« (s. Peters, 2017).
Gemäß den psychosomatischen Konzepten von Stahl sieht Bolten die Indikation zur Psychotherapie auch bei körperlichen Leiden. Er schreibt: «Man müste die Natur des Menschen wenig kennen, wenn man nicht wissen sollte, wie genau die Kranckheiten der Seele mit denen Kranckheiten des Körpers verbunden sind, und umgekehrt. Eine Kranckheit des Körpers curiren, ohne zugleich der Seele zu Hülfe zu kommen, ist eben so eine vergebliche Bemühung, als das Ebenbild eines häßlichen Gesichtes in einem aufrichtigen Spiegel verbessern wollen, ohne sich zu bemühen, das Urbild schöner zu machen«. Unter einem Model psychosomatischer Wechselwirkungen beschreibt Bolten auch den Einfluss körperlicher Krankheit auf die Seele: «Zum zweiten sind auch da die psychologischen Curen nothwendig, wo sich eine in dem Körper befindliche Kranckheit allzusehr in der Seele ausbreitet«.
Im Sinne psychotherapeutischer Techniken verweist Bolten auf die große Bedeutung einer Vertrauensbeziehung und den Glauben des Patienten an die Kompetenz des Kurierenden. Er beschreibt die Bearbeitung traumatischer Erinnerungen, z. B. indem der ständige »Gedancke des Vaters von seinem Kind und dessen Tode in seiner Seele ausgelöschet werde«. Er beschreibt die Realitätstestung, indem man bei Patienten die »Einbildungs- und Erdichtungskraft verbessert, theils indem man ihre Scharfsinnigkeit erreget, damit sie auf die Unterschiede derer Einbildungen und Empfindungen acht haben«. Er beschreibt im Sinne einer Aufmerksamkeitslenkung die »Dissoziation als psychologisches Heilmittel für die Schmerztherapie«. Im Sinne einer kognitiven Therapie beschreibt er »falsche Gedanken und wie man sie behandelt«, wie man Vorhersehen und Vermutungen hervorbringen und verhindern und den richtigen Gebrauch der Vernunft fördern kann.
Ein weiterer Autor, der in der Tradition von Stahl und seinen Schülern aus Halle stand, war Johann Christian Reil (1759–1813). Er wird, zurecht oder unrecht, gelegentlich sogar als der eigentliche Schöpfer der Psychotherapie bezeichnet. Er war aber in jedem Fall der erste, der den Begriff Psychiatrie (= Seelen-Arzt) verwendete.
Johann Christian Reil wurde 1759 in Rhaude geboren und verstarb 1813 in Halle. Er studierte in Göttingen und Halle und wurde dort 1787 Professor der Medizin. Er war ebenfalls beeindruckt von den Ideen der Aufklärung. Er selbst empfand sich weniger als Neuerer, sondern als Fortsetzer der alten Hallenser Tradition. Er bezog sich auf eine große Reihe von Vorgängern, unter ihnen Johann Christian Bolten, Immanuel Kant, Heinrich Tabor, Friedrich Christian Gottlieb Scheidemantel, Georg Friedrich Sigwart, Michael Alberti, Salomon, William Falconer und selbst noch Joseph Wenzel, dessen Versuch einer praktischen Seelenarzneikunde. Mit einem Anhange von Krankheitsgeschichten der Seele gerade erst 1801 in Graz erschienen war. Man erkennt, dass die frühe Psychotherapieentwicklung auf vielen Schultern stand.
Reil veröffentlichte 1803 sein Buch Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, in dem er sich ausführlich über die «psychische Curmethode« geäußert hat. Reil hatte kein ausgearbeitetes theoretisches Modell von den »Gesezzen der Seele« oder zur »psychischen Curmethode«. Auch die Psyche des Arztes war an der Therapie wenig beteiligt. Er ging von der psychischen Symptomatik des Patienten aus, auf die er pragmatisch versuchte einzuwirken. Wenn Reil einen Patienten an ein loderndes Feuer heranführte, in der Absicht ihn zu erschrecken, dann war das für ihn schon eine »psychische Cur«. Durch sein ansprechendes schriftstellerisches Talent und seine oft kühne Ausdrucksweise hat Reil allerdings viel für die Verbreitung und Popularisierung psychischer Behandlungen getan.
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