1 ...8 9 10 12 13 14 ...23 Eine andere Perspektive ist die Anerkennung sowohl der Möglichkeit als auch der Verantwortung des Menschen, aus seiner Umgebung Nutzen zu ziehen. In den letzten Jahren haben Wissenschaftler die Vorstellung in Frage gestellt, dass europäische Siedler bei der Landung in der Neuen Welt eine unberührte Wildnis vorfanden. Von den borealen Nadelwäldern bis hinunter zum Amazonas-Dschungel war dieses Land meisterhaft von indigenen Völkern bewirtschaftet. So schreibt zum Beispiel M. Kat Anderson in Tending the Wild über die kalifornische Landschaft: »Vieles von dem, was wir heute als Wildnis betrachten, wurde tatsächlich durch das Abbrennen, Ernten, Bestellen, Beschneiden, Säen und Pflegen durch die Indianer geformt.« 1Das bedeutet nicht, dass wir alle sofort mit dem Pflanzen und Beschneiden der Wildnis beginnen sollten, ohne vorher die Bedürfnisse eines Ökosystems zu verstehen. Aber wir können darauf hinarbeiten, dieses Bewusstsein zu entwickeln, und von denen lernen, die sich auskennen.
Wenn Sie mit einer fürsorglichen Haltung an das Wildsammeln herangehen, können (und werden) Sie einen positiven Einfluss auf Ihr lokales Ökosystem und Ihre Gesundheit erleben. Das ist etwas ganz anderes als alle Pflanzen zu ernten, die man ernten kann. In erster Linie geht ethisches Wildsammeln über einen »nicht schädigenden« Ansatz hinaus. Vielmehr geht es darum, ein widerstandsfähigeres Ökosystem zu schaffen.
EINE WECHSELSEITIGE BEZIEHUNG ZUR NATUR ENTWICKELN
Ethisches Wildsammeln beginnt mit einer Mentalität der Gegenseitigkeit und verkörpert den Wunsch, mehr zu geben, als selbst zu nehmen. Das kann bedeuten, gegebenenfalls Samen auszustreuen, Pflanzen so zu beschneiden, dass es ihr Wachstum unterstützt, oder dass man Müll aufsammelt. Es kann auch bedeuten, sich in der eigenen Region für eine gesündere und widerstandsfähigere Landschaft einzusetzen, eine Landschaft, die Praktiken wie Kahlschlag, das Abladen von Giftmüll und das Versprühen schädlicher Pestizide und Herbizide infrage stellt. Wenn Sie auf Wildpflanzen als Nahrungsmittel und Medizin bauen, sollten Sie wissen, dass diese sich wiederum darauf verlassen, dass Sie sie vor Schaden bewahren. Reziprozität bedeutet auch, dass Sie regelmäßig auftauchen, und nicht nur dann, wenn Sie etwas wollen. Dazu gehört der Besuch der Gebiete zu allen Jahreszeiten, um die Veränderungen zu beobachten, die natürliche Zyklen mit sich bringen, und um zu sehen, wie sich die Ernte auf diese Gebiete auswirkt.
Wenn Sie eine Beziehung zu Ihren Erntegebieten aufbauen, überlegen Sie sorgfältig, wem Sie davon erzählen. Wildsammler sind oft verschwiegen bzgl. ihrer Erntegebiete. Das geschieht nicht unbedingt aus einem Gefühl des Besitzanspruches heraus, sondern eher aus der Verpflichtung, sich für die Gesundheit dieses Ortes einzusetzen. Seien Sie sich bewusst, dass, wenn Sie Ihr Erntegebiet preisgeben – ob persönlich oder in den sozialen Medien – diese Menschen es vielleicht mit anderen teilen. Wenn das Gebiet übermäßig abgeerntet wird, können Sie nicht wissen, ob die Veränderungen, die Sie wahrnehmen, auf Ihr eigenes Handeln oder das anderer zurückzuführen sind, was eine entsprechende Anpassung erschwert.
Ein Besuch an Ihrem Lieblingsplatz kann eine Welt voll Freude und Faszination offenbaren. Haben Sie bemerkt, dass ein winziger Pilz aus dem verrottenden Baum wächst? War das gerade ein Lied des ersten Rotkehlchens der Saison? Haben Sie bemerkt, wie frisch und prickelnd sich die Luft anfühlt? So viele Freuden warten auf Sie, wenn Sie Ihre volle Aufmerksamkeit aufwenden, von dem Moment an, in dem Sie aus der Tür gehen, bis zum Abfüllen Ihres Kräutertranks oder dem Genuss Ihres Gerichts aus selbst gesammelten Zutaten. Diese Konzentration und Aufmerksamkeit kann durch das Piepen oder Summen digitaler Geräte unterbrochen werden. Wenn es für Sie möglich ist, schalten Sie Ihr Telefon stumm, wenn Sie sich um Ihren Platz kümmern, Pflanzen sammeln oder diese verarbeiten.
Bewusstheit bedeutet auch, dass man nicht einem Trott unterliegt oder stark vereinfachten Regeln folgt. Viele Anleitungen für das Sammeln von Pflanzen für Nahrungszwecke geben Margen an, wie viele Pflanzen zu nehmen sind: »Nehmen Sie eine von zehn Pflanzen« oder »Ernten Sie 30 Prozent der Gesamtpopulation«. Aber diese Regeln haben in einem regenerativen Modell nicht viel Wert. Wie viel man ernten kann, unterscheidet sich von Pflanze zu Pflanze und ändert sich von Ökosystem zu Ökosystem, von Jahreszeit zu Jahreszeit sowie von Jahr zu Jahr. Das Auswendiglernen einer Reihe von mengenmäßigen Richtlinien ist nicht hilfreich und kann sogar zu übermäßigen Erntemengen führen. Prüfen Sie stattdessen aufmerksam, was vorhanden ist , und richten Sie ihr Ernteverhalten nach dem, was zur tatsächlichen Situation passt.
Journal:
IHRE UMGEBUNG VOR ORT
Welche aktuellen Anliegen gibt es in Ihrer Region? Zum Beispiel:
Welche Art von Lebensraumverlust (wenn überhaupt) beeinträchtigt Ihre lokalen Ökosysteme?
Ist die Niederschlagsmenge (oder die Schneedecke) geringer als normal, normal oder höher als normal?
Fordern invasive Pflanzen oder Tiere einen Tribut von einheimischen Pflanzen?
Gibt es Pflanzen, die ständig übermäßig geerntet werden?
Machen Sie eine Liste von Problemen, die Ihnen bekannt sind. Setzen Sie sich mit Personen in Verbindung, die möglicherweise ein umfangreicheres Verständnis für diese Themen haben (Naturforscher, Kräuterkundler, Wissenschaftler, Dorfälteste usw.). Überlegen Sie, wie sich die lokalen Probleme auf die Pflanzenpopulationen auswirken. Was können Sie tun, um zu helfen?
Emilys Geschichte:
KLIMAWANDEL = VERÄNDERTE NAHRUNGSSUCHE IN DER NATUR
Mein Verständnis als Wildsammlerin bedeutet oft, dass ich mich dafür entscheide, die Pflanzen nichtzu ernten. Von 2010 bis 2017 starben in Kalifornien rekordverdächtige 129 Millionen Bäume aufgrund von Dürre, Borkenkäferbefall und steigenden Temperaturen. Unzählige andere Pflanzen und Tiere litten gleichzeitig unter dem unerbittlich trockenen, heißen Wetter. Während die Dürre anhielt, wurde ich Zeuge ihrer Verwüstung an Orten, an denen ich gerne wanderte und Pflanzen sammelte. Die Nahrungssuche in diesen Gebieten war nicht mehr angebracht. Blätter, Blüten oder Beeren von einer dürregestressten Pflanze zu nehmen, wäre nicht respektvoll gegenüber ihr als einzelner Pflanze, gegenüber der Gesundheit des Pflanzenbestandes oder im Hinblick auf die Tiere, die von der Pflanze als Nahrungsquelle abhängig sind. Ich würde mehr nehmen, als ich zurückgeben könnte.
Als ich diesen Text schrieb, war die Dürre zwar vorbei, aber ihre langfristigen Auswirkungen, die Beschleunigung des Klimawandels und der Verlust von Lebensraum bedeuten, dass meine Bioregion weiterhin Schwierigkeiten ausgesetzt sein wird. Anstatt in der Wildnis zu suchen, konzentriere ich mich darauf, meine eigenen Kräuter anzubauen, von lokalen Bauern zu kaufen und einheimische Pflanzen anzubauen, um die Tierwelt vor Ort zu unterstützen. Ich besuche nach wie vor meine ehemaligen Wildsammelplätze, und die Pflanzen bieten ihre Gaben weiterhin auf unterschiedliche Weise an. Allein das Zusammensein mit diesen Pflanzen kann an sich eine sehr wirksame Medizin sein.
Читать дальше