Einige Jahre mochten wohl über die Lande ziehen; Jahre, in denen ich unter Jharrn das Haupt senken musste. Dann würde eine neue Ära der Diebe anbrechen, eine Zeit, in der ich mir die Anerkennung der männlichen Wasserdiebe erwarb und das festgefahrene Gedankengut des Stammes durchbrach. Eine Zeit, in der Frauen nicht bloß dem Pfad der Jäger und Krieger folgen würden, sondern den Respekt der Götter beim Ritual des Wasserdiebstahls zu verdienen und sich darin allen engstirnigen Regularien zu widersetzen vermochten.
Immerzu hieß es: Das Weibliche wäre zu wertvoll, die Aufgabe viel zu gefährlich, der Diebstahl Sache der Männer.
Doch im Herzen wusste ich:
Ganz egal, was Jharrn sagt …
Ich bin gut genug. Und mein Glaube trägt mich durch jede Gefahr.
Mit halbgeschlossenen Lidern beobachtete ich das Aufklaren des Wüstensandes, als sich Jharrns Spucke unter der Sommerhitze mit der flimmernden Luft vereinte und jegliche Erinnerung an seine Gesten verwischte. In jenen Momenten glitt ein Windhauch wie ein tröstendes Versprechen über meinen Körper, spielte mit den widerspenstigen Strähnen, die sich aus meinem Zopf gelöst hatten, und flüsterte mir eine verheißungsvolle Zukunft ans Ohr.
Eine, in der Wind über grüne Grasebenen tanzte. Eine, die allein mir gehören sollte.
Mit der Fingerkuppe löste ich den Sand von einem der Steppengrassprösslinge und strich über die schwachen Blätter der Pflanze. Noch ahnte ich nicht, dass die kleinen Wedel nicht aufgrund meiner bloßen Berührung zu vibrieren begannen.
***
Ein ohrenbetäubendes Donnern erfüllte die Luft und versetzte den Boden unter unseren Körpern in Schwingung, als wir den Warnton aus dem Rufhorn der Reiterkrieger vernahmen. Zunächst blieben wir ohne Regung auf unseren Posten im Gras, spürten den Bewegungen des Erdbodens nach und verharrten in vollkommener Verwunderung, als hätte man uns an Ort und Stelle mit Blei festgekettet.
Mit den Augen verfolgte ich den Weg zweier Erdklumpen, die verdächtig von ihren windgeformten Miniaturdünen zu rollen begannen. Dann erkannte ich eine gewisse Vertrautheit in den Vibrationen des Bodens. Dumpfe Klänge in rhythmischen Takten. Roh. Wild. Mal sanfter. Mal härter.
Unverkennbar der Melodie einer Hetzjagd folgend und …
»PFERDE!«
Jharrn fasste die unheilverkündende Erkenntnis in Worte.
Ein Warnton aus dem Horn unserer Reiter wäre wohl kaum über die Steppe gefegt, hätte es sich bei den Pferden um unsere eigenen Reittiere gehalten, oder?
Im Schock des eigenen Gedankenguts erfroren, starrte ich auf die wankenden Grasbüschel vor meinen Augen und lauschte dem Geräusch der donnernden Hufe, die in halsbrecherischer Geschwindigkeit auf unser Versteck zuhielten. Wie ein tosender Sturm erschütterte die Hatz der Reiter das Land, fegte gewittergleich über das Steppengras und versetzte selbst die Sandschicht über den verhärteten Erddeckeln in Schwingung. Einen Moment war mir, als vermochte der fliehende Sand eine Melodie anzustimmen.
Die Dünen sangen das Lied der Wüste.
Mein Herz schien einige Schläge lang auszusetzen, bloß, um in den folgenden Sekunden Kapriolen zu schlagen und mich endlich aus meiner Schockstarre erwachen zu lassen.
»Grundgütige Epona, was …?!«, wollte ich fluchen.
Dann ließ mich die Vernunft meine Worte vergessen und Taten anstatt sinnloser Flüche folgen. Ich zog mich an einem der Wüstengrasbüschel auf alle viere, reckte meinen Kopf über den Rand der Rispen und sah, was sich am Rande der Stadtgebiete ereignet hatte. Wo unsere Reiter die Mauerwachen hätten ablenken und fort von der Bruchstelle locken sollen, da harrten noch immer die Städter mit eisern erscheinenden Körpern. Jedoch standen die Tore der Legendenstadt Gwerdhyll weit offen und entließen berittene Soldaten auf das Land der Namenlosen, sodass unsere Krieger – in der Unterzahl und mit den jungen Kriegersprösslingen im Schlepptau – nur mehr die Flucht zu ergreifen vermochten.
Sie flohen kopflos. Haltlos. Unbedacht.
In unsere Richtung hielten die Reiter … und nahmen ein gesamtes Verfolgerpack mit sich.
»Verdammte Scheiße!«, bellte nun auch der Wassermeister, der direkt vor mir aus den Grasbüscheln schoss und fassungslos die staubwirbelnde Reitergruppe mit Blicken der Ungläubigkeit verfolgte. »Mit welch einer Torheit sind diese Männer gestraft?! Mit welch einer Strafe bin ich heute gesegnet?«
In einer fließenden Bewegung beugte sich Jharrn zur Seite, reckte seine Hand zwischen die Rispen und griff nach dem Kragen des Reiterkriegers. Krusadh wurde einfach vom Boden gerissen und konnte in den Händen des kräftigeren Mannes kaum das Gleichgewicht finden, als dieser die Hand um seine Kehle zu schließen begann. Wohl wussten beide Männer, in welch einem Tempo die Reiter auf unsere Position zusteuerten … und wie wenig Zeit vor der unmittelbaren Katastrophe verblieb … Doch schien der Wassermeister bloß einen Gedanken zu hegen: Krusadh für den nahenden Tod büßen zu lassen.
Jharrn schüttelte sein nahezu wehrloses Opfer mit beiden Händen, sodass sich die schwarzen Strähnen seiner Haare mit dem Schweiß in seinen Zügen verklebten und das Gesicht des Wassermeisters in eine teuflische Fratze verwandelten.
»Welche Anweisung haben die Männer?!«, brüllte Jharrn dem jungen Krieger entgegen.
Seine zierliche Nase kam dem kantigen Kriegergesicht viel zu nahe, als Krusadh mit den Händen nach den Armen des Meisters griff und seinen Kopf mit aller Wucht nach vorn schleuderte. Die breite Stirn traf die wesentlich schwächere Nasenpartie, als wäre ein Meteorit auf den trockenen Boden geschlagen.
Schon taumelte der Meister ein paar Schritte zurück.
Mit einem erschreckenden Male schien sein Blick in weite Ferne gerückt und richtete sich unter Irritation auf einen horizontnahen Punkt, als er das Blut unter seinen Nasenflügeln mit den nackten Unterarmen verwischte. Die Pupillen weiteten sich in ihren steppengrasgrünen Betten auf unnatürliche Größe, zuckten noch im Trauma des Schädelstoßes umher und versuchten vergeblich, sich auf die Distanz der nahenden Reitersilhouetten einzustellen. Es musste wohl in ebendiesen Momenten, in ebendiesen wenigen Herzschlagmomenten geschehen, da sich gerade noch der dritte Wasserdieb aus seiner Schockstarre in den Gräsern erhob – bloß, um von der Brust eines galoppierenden Pferdes erfasst und unter die Hufe geschleudert zu werden.
Wieder fand ich mich in einem Moment der Reglosigkeit.
Ich hörte den Schädel des Wasserdiebs knacken, als der Eisenbeschlag des Tieres durch den Knochen drang und das Gesicht in eine verzerrte Schreckensversion des einst bekannten Mannes verwandelte. Ich hörte den Schrei des stürzenden Stadtpferdes, das über den offenen Körper des Wasserdiebs rutschte und sich samt Reiter auf dem harten Erdboden überschlug. Das Knacken von Knochen, das Bersten von Rüstungsteilen, das Klirren von eisernen Waffen auf trockenem Grund. Erstickende Schreie eines Städters unter dem toten Leib seines Tieres. Das Gurgeln eines sterbenden Mannes mit durchstoßenem Brustkorb.
Blutregen spritzte aus seiner Kehle über den Sand, als handelte es sich dabei um sanfte Sommerergüsse am Rande einer Schlechtwetterfront. Dunkelrote Sprenkel benetzten den verdrehten Leib des gestürzten Pferdes, rannen über das schwarze Fell jenes Rappen und sammelten sich zu einer versickernden Lache.
Wie in Trance drehte ich mich um die eigene Achse und verfolgte die erste Welle der berittenen Städter, die bei unserem Anblick in Überraschung die Schwerter zückten, die mit ihren Schilden und Lanzen weiter auf uns zudonnerten und einem anderen Teil der Gruppe die Verfolgung unserer Reiter überließen. Aus den Mündern der Männer stieg ein bedrohlicher Chor gebrüllter Befehle, der die Pferde in Panik voranstürmen ließ, der mit den Galoppsprüngen lauter und lauter wurde, der sich sekündlich steigerte und zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen anschwoll. Weißer Schaum stob aus den Mäulern der Tiere, bedeckte die schwitzenden Muskeln mit Speichel und flog durch die flirrende Wüstenluft.
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