RH… mittels Sensibilität …
ELRJa, mithilfe von Sensibilität und deiner Neugier. Letztere führt zum Numinosum, wenn man sensibel genug ist, aber nicht, wenn man sich so verhält, wie Menschen es normalerweise tun. Wenn das Neuartige dich verzaubert, kannst du in einen neuen Raum in deinem Geist-Gen-Gehirn eintreten, und du erschaffst dich dadurch praktisch neu. Das ist eine simple neurowissenschaftliche Beschreibung von alldem.
RHNeugier gegenüber Möglichkeiten!
ELRGenau! – Möglichkeitsdenken …
RH… und ich sehe darin einen Unterschied zum herkömmlichen Verständnis von Neugier. Es ist mir wichtig zu zeigen, dass es einerseits eine generelle Neugier auf Informationen gibt und andererseits eine Neugier auf unerwartete Informationen – Neugier auf Spiel –, die zu Ausgangspunkten für neue Möglichkeiten werden, weil Neugier auf Informationen und Spiel nur so lange ihre Funktion erfüllt, bis die Informationen gefunden sind. Neugier auf Möglichkeiten hingegen ist ergebnisoffen – so wie das Numinosum –, weil sie sich im Randbereich des Wachsens und der Weiterentwicklung bewegt, in dem es keine Einschränkungen gibt.
ELRGenau! Hast du das aufgeschrieben?
RHIch habe es aufgenommen …
ELRGut.
RHUm es vereinfacht auszudrücken: Neugier schaltet das »gute Zeug« ein, indem sie dich zunächst in den bestmöglichen Anfangszustand versetzt. Meiner Meinung nach gibt es im Gehirn ein »Neugier-System«, und zwar im Bereich der Nuklei oder Kerne, die sich wie eine kleine Versammlung oben auf dem Hirnstamm und an der Basis des Mittelhirns befinden [siehe hierzu Kapitel 9] und die ich »Nuntius-Kerne« nenne. Mir scheint, dass dies im Grunde nur eine nette kleine Möglichkeit ist, physisch und neurobiologisch zu beschreiben, worüber wir gerade gesprochen haben. Wir mögen, was die Neugier bewirkt! – Sie schaltet »gutes Zeug« ein.
ELRGenauso ist es.
RHUnd wir können alle zuversichtlich sein. Damit meine ich nicht nur emotionale Zuversicht, sondern auch körperliche Zuversicht …
ELRJa … und Behagen – das ist ein großes Wort!
RH… und das ermöglicht dir, das Numinosum und die Neugier zu fühlen …
ELRVerwunderung, Faszination und Staunen angesichts des Ungeheuerlichen.
RHNeuheit ist ein Trigger – Neuheit/Überraschung/Interesse –, der die äußere Welt, die Gewinner-Verlierer-Welt, wie ich sie nenne, diese dominierende äußere Welt, unterdrückt. Wenn du dem Neuen gegenüber nicht sensibel genug bist, beginnt das System möglicherweise nicht damit …
ELRRichtig …
RH»Sensibel« ist aus meiner Sicht heute das große Wort. Ein sehr wichtiges Wort … (Wir halten einen Augenblick inne und genießen diese Offenbarungen)
RHIch sitze hier nun schon eine ganze Weile und schaue mir ein Bücherregal auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes an, wo ich ein Buch entdeckt habe, das ein Freund von mir herausgegeben hat. Es handelt sich um Creating the Moment von Michael Hoyt.
Tatsächlich wurde dieses Buch von Michael Hoyt und Moshe Talmon herausgegeben, allerdings hat es den Titel Capturing the Moment (Hoyt a. Talmon 2014). Ich habe mit Michael darüber gesprochen, dass ich den Titel des Buches falsch benannt hätte. Er antwortete, ich sollte den korrekten Titel erwähnen, den »Irrtum« aber trotzdem im Text lassen, weil er für den betreffenden Augenblick relevant gewesen sei. Er hatte das Gefühl, dass wir einen Augenblick erschaffen hätten und dass wir die zufällige Falschbezeichnung für sich selbst sprechen lassen sollten.
ELRGenau, das ist das Wichtigste. Der »kreative Augenblick« ist Phase 3 – das Aha, das Positive – und viele Therapeuten sind nicht in der Lage, den Augenblick zu ergreifen …
(Wir genießen beide eine kontemplative Pause)
RHEs gibt jetzt so vieles, worüber ich nachdenken muss … da frage ich mich, ob wir heute noch mehr tun können.
ELRDu könntest einiges davon mitnehmen und vielleicht heute Nachmittag etwas darüber schreiben.
RHDas werde ich tun. Wir haben über so viele wunderbare Ideen gesprochen … so viele interessante Begriffe, Konzepte und Prinzipien, die ausführlicher erklärt werden sollten. Wir werden diese Dinge im ganzen Buch benutzen; deshalb sollten wir wirklich die Grundlagen klären. Ich finde, wir sollten einen Abschnitt ausschließlich für diese Grundlagen reservieren. … Das sind keine Dinge, die wir »tun«, sondern Dinge, die unterhalb dessen, was wir tun, liegen, und auch innerhalb dessen. Was wir tun, ergibt sich aus diesen Grundprinzipien. Deshalb bin ich der Meinung, dass wir dort beginnen und diese Dinge klären sollten, damit jeder sie versteht … das ist ein guter Plan. Ich werde jetzt gehen und daran arbeiten!
8Siehe: http://www.erickson-foundation.org/[22.12.2020].
9Im Original deutsch, Anm. d. Übers.
10Mehr zu den vier Phasen des kreativen Zyklus in Kapitel 5.
2Denken in den Systemen des Lebens
Vorbereitung des therapeutischen Geistes
ELRHast du in den Büchern, die ich dir gegeben habe, die Geschichte über Leeuwenhoek gefunden?
RHJa, habe ich, Ernie! Er hat ein Mikroskop entwickelt und damit als erster Mensch rote Blutkörperchen und Bakterien gesehen … Es muss unglaublich gewesen sein, zum ersten Mal in den Körper zu schauen.
ELRWas denkst du darüber?
RHEr konnte sehen, woraus wir bestehen.
ELRWeil es mehr ist, als man mit bloßem Auge erkennen kann?
RHUnd seit jener Zeit sind wir noch viel tiefer vorgedrungen … bis zur DNS.
ELRWas denkst du darüber?
RHWir haben aufgrund dessen alle möglichen medizinischen und psychotherapeutischen Behandlungsverfahren verändert …
ELRGenau …
RHDeshalb ist es wichtig, dass wir mehr darüber wissen, woraus wir bestehen.
ELRUnd darüber, wie das gesamte System funktioniert …
RHDas System?
ELROkay, einen Moment bitte … (geht zum Bücherregal und nimmt ein Buch heraus) … Lies das hier …
(Aus den Gesprächen zwischen Rossi und Hill im Juni 2016)
Ein neuer Klient kommt in die Klinik, und nachdem die Anmeldungsformalitäten erledigt sind, setzen Therapeut und Klient sich zusammen und reden etwa eine Stunde miteinander. Unabhängig von der Methode, die Sie als Therapeut benutzen, offenbart der Klient irgendwann etwas über den Grund seines Kommens: über das Etwas , das ihn quält; über das Etwas , das nicht in Ordnung ist; über das Etwas , das nicht gut ist oder sich schlecht anfühlt. Niemand sucht einen Therapeuten auf, um ihm zu sagen, alles sei in bester Ordnung, er fühle sich großartig, und in seinem Leben gebe es nichts, was sich ändern müsse. Alle Klienten kommen, um herauszufinden, warum sie sich nicht gut fühlen, und um diesen Missstand zu beheben.
Woher wissen wir, dass mit uns etwas nicht in Ordnung ist? Offenbar existiert in uns allen eine Instanz, die das weiß. Und außerdem gibt es in uns etwas, das es vorzieht , okay zu sein, und das einen Punkt zu erreichen versucht, an dem wir uns wieder okay fühlen: zu erreichen, dass wir uns wieder gesund, positiv, geliebt und verbunden fühlen und als Teil von etwas, das uns als sinnvoll und wichtig erscheint. Von den soeben genannten Seinszuständen geht eine Attraktion aus. Ein Mensch, der zur Therapie erscheint, reagiert auf diese natürlichen Bedürfnisse, Tendenzen, Neigungen und Präferenzen. Unglücklicherweise steht es mit dem, was der Betreffende in seinem momentanen Leben tut, nicht besonders gut, und möglicherweise verschlimmert es seine Situation sogar. Wer will das wissen? In diesem Moment jedenfalls weiß es weder der Klient selbst noch der Therapeut.
Etwas muss die Ausweglosigkeit durchbrechen. Es gibt Dutzende, ja sogar Hunderte von therapeutischen Methoden, die darauf abzielen, die Probleme eines Klienten zu beheben. Aber könnten wir von allen diesen Möglichkeiten einmal absehen und uns den natürlichen Fähigkeiten im Inneren des Klienten zuwenden? Sollte es uns gelingen, sie zu aktivieren, wird vielleicht auch das System, das uns »in Ordnung bringen« will, in diesem Sinne tätig werden. Kann ein Klient diese inneren Fähigkeiten erschließen, obwohl er gar nichts über sie weiß oder das Vertrauen zu ihnen verloren hat?
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