„Du bist heute so still, Eywa. Bedrückt dich etwas?“ Sie spürte Tessas Hand auf ihrem Kopf. Sie strich ihr über das Haar und es war ein angenehmes, beruhigendes Gefühl. Eywa legte das Messer beiseite, mit dem sie in einem speziellen Gerät für Blinde eine Tomate in Scheiben geschnitten hatte.
„Ich frage mich, was mich erwartet im Leben.“
„Oha! Also sehr tiefsinnige Gedanken. Möchtest du darüber reden?“
„Es gibt nicht viel zu reden, denn es gibt nicht viel zu erwarten.“
„Eywa, du bist noch jung, alles liegt vor dir.“
„Ich weiß, du willst mich trösten, aber dir ist sicher auch klar, dass mein Leben anders verlaufen wird als das von July, oder?“
„Jedes Leben verläuft anders.“ Sie setzte sich neben Eywa an den Tisch und legte ihre Hand tröstend auf ihren Arm. „Mein Leben ist auch anders verlaufen als das meiner Schwester. Sie ist in New York, lebt in einem luxuriösen Loft mit ihrem reichen Ehemann Nummer vier.“
Sie mussten beide lachen und Eywa spürte die Aufmunterung in sich wirken. „Ich dagegen schaffe es höchstens alle zwei Monate zur Maniküre und wenn ich den Laden betrete, schlagen sie sich die Hände über dem Kopf zusammen. Zuletzt, und da bin ich mir ganz sicher, sind sie hinter der Ladentheke in Sicherheit gegangen, als ich vorbeiging.“
Eywa musste so sehr lachen, das tat gut.
„Im Gegensatz zu meiner schicken Schwester lebe ich auf einer Ranch, habe viele Tiere und dazu unsere Gäste. Das hatte ich so nie geplant. Bis ich Mike kennenlernte und mit ihm seine Visionen verwirklicht habe.“
Tessa nannte die vom Gericht geschickten Jugendlichen immer ihre Gäste. Das fand Eywa sehr liebenswert. Sie sollten das Gefühl von Geborgenheit und Freiheit haben, nicht von Druck und Zwang.
„Für dich gab es immer eine Wahl. Egal was du gewollt hättest.“
„Aber die hast du doch auch?“
„Nicht wirklich. Die Vereinigung für Sehbehinderte hat mir ein Arbeitsangebot geschickt. Vielleicht nehme ich es an.“
„Was für ein Angebot?“ Tessas Stimme klang erschrocken.
„In einer Telefonzentrale. Ich müsste dafür nach Eugene ziehen.“ Sie verzog den Mund, denn Eugene war nicht das, was sie gewollt hätte.
„Na dann hast du doch die Wahl, die du wolltest. Du kannst in eine andere Stadt ziehen, wo dich niemand kennt, du dich nicht auskennst und einen Job erledigst, den du hassen wirst. Oder du bleibst bei uns und widmest dich dem, was dir Freude macht und dir wichtig ist, zum Beispiel deiner Musik. Die Entscheidung ist doch ganz einfach. Was ist mit deinen Klavierstunden?“
Noch bevor Eywa ihr antworten konnte, stürmte July ins Haus. Ihre Schritte waren schnell und sie wirkte hektisch, ihr Atem war sogar zu hören, als sie die Küche betrat. Tessa bestätigte Eywas Gespür.
„Nanu, July, was ist passiert?“
„Hi Mom“, sagte sie und gab ihr einen Kuss, dann kam sie auf Eywa zu und sie spürte Julys Lippen auf ihrer Wange. „Hi Cousinchen. Du glaubst nicht, wen ich gesehen habe.“
„Ein Gespenst?“
„Namens Leon!“
Eywas Herz machte einen so heftigen Satz, dass sie einen Augenblick verwirrt war.
„Wer ist Leon?“, wollte Tessa wissen.
„Der Typ, der Eywa über den Haufen gerannt hat.“
„Aha, und was ist daran so toll?“
Eywa war froh, dass Tessa so neugierig war und mehr wissen wollte, denn sie war zu überrascht, um zu reagieren. Am meisten über ihre Reaktion. Konnten andere sehen, wenn einem das Herz in der Brust schlug? Vorsichtshalber legte sie ihre Hand dorthin, wo es am heftigsten pochte.
„Er war auf der Durchreise, wollte nach Bakersfield.“
„Vielleicht hat er etwas vergessen? Ich zucke verwundert mit den Schultern.“
Eywa musste lächeln, denn ihre Tante war die Einzige, die ihre körperlichen Gesten manchmal laut aussprach, damit sie auch diese Dinge erfassen konnte. Oft klang das wirklich witzig.
„Eben nicht. Ich traf Joe an der Tankstelle und er hat mir erzählt …“
„Er hat getratscht!“, schnitt Tessa ihr scharf das Wort ab. Es war nicht so, dass Tessa Joe nicht mochte, aber sie konnte ihm nie ganz verzeihen, dass er mit seinem losen Mundwerk fast ihr Projekt mit den Jugendlichen gefährdet hätte. Nicht überall waren Straftäter gerne gesehen. Auch wenn sie noch jung waren. Joe war damals dagegen gewesen, dass man sich freiwillig ‚ diese verdorbenen Subjekte‘ in die Stadt holte. Tillamook sei eine friedliche Stadt und sie sollte es auch bleiben. In seiner Bar animierte er die Einwohner zum Protest, verteilte Flugblätter und sammelte sogar Unterschriften. Als sogar die Behörden begannen, das Projekt anzuzweifeln, kostete es Mike und Tessa viele Nerven, Überzeugungskraft und jede Menge Kuchen, der die hitzigen Diskussionen bei Krisentreffen auf der Ranch versüßte. Was auch immer Tessas Rezept gewesen sein mochte, doch die köstlichen Stückchen schmolzen nicht nur auf ihren Zungen, sondern entlockten ihnen auch süßere Töne. Zum Schluss einigte man sich auf eine Art Probelauf für ein halbes Jahr und den bestanden sie mit Bravour.
„Mom, vergiss die Sache von damals“, gab July zurück und hatte offenbar dieselben Gedanken gehabt wie Eywa. „Also, Joe erzählte mir, dass ein Kerl namens Leon bei ihm nach einem Job gefragt hätte und er ihn zum alten Mick geschickt hat. Er sagte zu mir ‚Ich glaube, das ist der Typ, mit dem ihr zuletzt hier gesessen habt’. Da wollte ich wissen, ob ich mit meiner Vermutung richtigliege.“
„Und?“ Eywa platzte vor Neugier.
„Ich bin unter einem Vorwand zum Farmhaus, schließlich kümmert man sich in Tillamook um seine kranken Nachbarn.“
„Natürlich“, sagte Tessa mit spöttischem Unterton.
„Mick hat sich sehr gefreut, ich soll dich übrigens grüßen, Mom, und als ich gerade danach fragen wollte, ob er etwas benötigt, kam Leon aus der Scheune, und wow, er sah echt gut aus.“
Eywas Eingeweide zogen sich zusammen und darüber ärgerte sie sich. Sie war gerade dabei, sich in etwas zu verrennen und das war gar nicht gut. Denn ganz offenkundig schien er Julys Aufmerksamkeit ebenso auf sich gezogen zu haben. Und nur weil er in Tillamook war, hieß es nicht, dass sich ihre Wege noch einmal kreuzten.
„Was hast du zu ihm gesagt?“
„Ich habe natürlich so getan, als sei ich völlig erstaunt, ihn dort zu treffen. Ich habe nachgehakt, ob er nicht vorgehabt hatte, nach Bakersfield zu fahren, und er antwortete, dort mögen sie keine Hunde. Was auch immer er damit meinte.“ July lachte und in Eywa flackerte etwas auf, was sie noch nie zuvor gefühlt hatte. Es brannte, es pochte, es brodelte und … es ärgerte sie. Sie war eifersüchtig! Das konnte doch nicht sein!
„Ich ziehe gerade überrascht meine Augenbrauen hoch, liebes Töchterlein. Dieser junge Mann scheint dich sehr zu interessieren.“
„Wie kommst du denn darauf?“ July lachte. Eywas Gefühle überrannten sie gerade und das musste sie schnell unterbinden. Wenn July sich in ihn verliebte, dann war das nun mal so und dann würde sie sich von Herzen für sie freuen. Fertig! Ihre Gedanken an ihn waren eine dumme Schwärmerei über eine schöne Stimme und ein höfliches Auftreten. July jedoch wäre stets die geeignetere Kandidatin. Sie hoffte nur, dass nicht ausgerechnet er der Prinz Charming war, der sie von der Ranch entführen würde.
„Ich habe ihn gefragt, ob er Lust hat, zum Essen zu kommen, doch er schien irgendwie schüchtern und ist mir ausgewichen. Aber er hat nach dir gefragt.“
Wieder machte ihr Herz einen unkontrollierten Satz. „Aus Höflichkeit. Er wollte sicher nur wissen, wie es meinem Handgelenk geht.“
„Nein, das glaube ich nicht, denn von deinem Handgelenk war nicht die Rede und außerdem war es die Art, wie er nach dir gefragt hat. Ich glaube, er findet dich toll und ist nur hier, um dich wiederzusehen.“
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