Im Mai 1689 war es so weit. Ernst August übertrug dem 21-jährigen Königsmarck das Kommando über seine beiden Kompanien der Schlossgarde, aus denen später das Garderegiment zu Fuß hervorgehen sollte. Als Oberst nahm Königsmarck mit dieser Elitetruppe noch im gleichen Jahr am Feldzug gegen die Franzosen am Mittelrhein teil. Beim Sturm auf Mainz wurde er am 6. September am Oberschenkel verwundet, kurze Zeit später stand er aber schon wieder an der Front, diesmal in Flandern.
Im November 1689 verließ Philipp Christoph mit seiner Truppe das Feldlager, kehrte nach Hannover zurück und ließ sich in der Calenberger Neustadt nieder. Und schon bald zog er in die Altstadt und mietete hier ein Fachwerkhaus mit drei Stockwerken in der Osterstraße. Im Erdgeschoss befanden sich sechs, im ersten Stock acht Zimmer. Er beschäftigte 29 Bedienstete und hielt auf seinen Gütern insgesamt 52 Pferde und Maultiere.
Gemessen an diesem Tross von Domestiken, den Ställen voller Pferde, dem Haus voll kostbarer Möbel, Wandbehänge, Gemälde und Silberbestecke nahm sich sein Soldatengehalt bescheiden aus. Doch der Oberst kam schließlich aus reichem Hause, und nach dem Tod seines Bruders und der Erlangung seiner Volljährigkeit wurde Philipp zum Familienoberhaupt – seine Mutter starb 1691. Trotz der Domänenreduktion bezog er immerhin noch 6850 Taler allein aus seinen schwedischen Gütern, und die Einnahmen aus anderen Besitzungen kamen noch hinzu. Doch das Geld reichte nicht. Zum einen hatte er jährlich 4600 Taler an seine Schwestern und andere Familienangehörige abzuführen, zum andern waren manche Güter hoch verschuldet. Zudem zeigte sich der schwedische König weiterhin bestrebt, Güter in den Besitz der Krone zurückzuführen, sodass er befürchten musste, seine Ländereien im Amt Wollin und in Estland genauso zu verlieren wie zuvor seine Güter in Bederkesa oder im schwedischen Westerwik.
Doch der junge Grandseigneur blieb gelassen. Obwohl er bei dem Hofjuden Lefman Berens bereits tief in der Kreide stand, spielte er weiterhin mit hohen Einsätzen. Und er verlor Tausende von Talern in einer einzigen lustigen Lagernacht. Nein, er war einfach nicht bereit, sich den Kopf über Geld zu zerbrechen. Das Knausern überließ er anderen.
Spätestens mit jenem Maskenball des Jahres 1690 trat eine Frau in sein Leben, die ebenfalls ihr Glück außerhalb der vorgegebenen Bahnen suchte. Seit jenem Menuett versuchte er alles, der Prinzessin nahe zu sein. Bei fast allen Festen sah man die beiden in diesem Frühjahr zusammen. Das blieb nicht unbemerkt. Und wieder war es Fürstin Sophie, die sich genötigt sah, ihre Schwiegertochter auf die Unschicklichkeit ihres Tuns hinzuweisen.
So trafen sich die Verliebten heimlich, und sie schrieben einander Briefe. Als Mittlerin fungierte dabei Eleonore von dem Knesebeck, Sophie Dorotheas Hofdame. Die »Confidente«, die Verbündete, wie sie in den Briefen genannt wird, brachte Sophie Dorotheas Briefe an Königsmarck auf den Weg und nahm die Königsmarck-Briefe in Empfang, die aus Sicherheitsgründen nicht an die Prinzessin, sondern an sie adressiert waren.
Auch für den Fall, dass die Briefe abgefangen und in die Hände von Außenstehenden geraten sollten, sorgten die Verliebten vor. Unter anderem dachten sie sich Decknamen aus. Sophie Dorothea nannte sich Hermione, Silvie oder Coeur gauche (frei übersetzt Herzdame), Königsmarck war Chaevalier (Kavalier) oder Tircis, seine Geliebte sprach er als »Prinzess« oder einfach »Pr.« an.
Viele Decknamen ließen durchblicken, was die Briefeschreiber von den Betreffenden hielten. Sophie Dorotheas Gemahl Georg Ludwig war »Incommode« (Störenfried) oder »Reformeur«, die Platen wurde mal als »Perspective« (Fernrohr), mal als »la Grosse« (dicke Berta) bezeichnet. Spöttisch nannten die Liebenden Fürst Ernst August »Don Diego«, Feldmarschall Podewils »Bonhomme« (Biedermann). Die Herzogin von Celle, die den beiden bisweilen unerwünschte Ratschläge erteilte, wurde zur »Pédagogue« (Erzieherin).
Später machten sich Sophie Dorothea und Philipp Christoph auch noch die Mühe, Namen oder Orte mit Hilfe von Ziffern zu verschlüsseln – allerdings leicht durchschaubar. Beginnt die dreistellige Chiffre mit einer »1« handelt es sich um einen Mann, beginnt sie mit einer »2« ist eine Frau gemeint. Die Zahl »100« ist Herzog Ernst August vorbehalten, »200« Herzogin Sophie. Hinter der Ziffer »120« verbirgt sich Königsmarck, hinter der Zahl »201« Sophie Dorothea.
Der erste erhaltene Brief datiert vom 1. Juli 1690 und entstammt der Feder Königsmarcks, der in dieser Zeit wieder als Oberst im Dienste des hannoverschen Herzogs mit seinem Regiment gegen die Franzosen nach Flandern ausgerückt war.
Aus der Ferne war Kanonendonner zu hören. Die Kämpfe auf dem Feld von Fleurus in Brabant hatten begonnen. Fürst von Waldeck, Befehlshaber der Alliierten, hatte in den frühen Morgenstunden des 1. Juli 1690 seine Truppen auf den Höhen am Ligny-Bach zusammengezogen. Die Franzosen erwiderten das Feuer. Den Celler Soldaten, die gemeinsam mit den Holländern Aufstellung genommen hatten, sausten die Geschosse bereits um die Ohren.
Im Feldlager Königsmarcks war es noch ruhig. Nur das dumpfe Grollen aus der Ferne ließ ahnen, dass etwa zwei Tagesmärsche entfernt eine Schlacht tobte. Unter den Soldaten des neunten hannoverschen Infanterieregiments im Feldlager von Ath im niederländischen Hennegau herrschte gespannte Stille.
Müdigkeit machte sich breit. Der Soldat, der vor dem Zelt Königsmarcks Wache hielt, gähnte.
»Ich möchte keinesfalls gestört werden, habt ihr mich verstanden?«, hatte der Oberst befohlen. Niemand sollte zu ihm vorgelassen werden. Er sei mit dringenden Angelegenheiten beschäftigt.
Der Wachposten hörte, wie sein Vorgesetzter mit der Feder übers Papier kratzte und Wörter buchstabierte. Der Oberst schrieb einen Brief. Und es fiel ihm wie üblich schwer. Selbstverständlich war der Brief in Französisch abzufassen, alles andere wäre vulgär gewesen. Da Königsmarck Französisch nie als Schriftsprache, sondern nur über das Ohr gelernt hatte, machte ihm das Schreiben Probleme. So schrieb er immer erst eine Fassung, die er von einem verschwiegenen Gewährsmann korrigieren ließ, um dann noch einmal alles fein säuberlich abzuschreiben.
Es war warm im Zelt, Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Zum Glück war er endlich zum Ende gekommen. Aber würde seine »Brünette« auch verstehen, was er ihr sagen wollte? Seufzend nahm er das Blatt Papier in die Hand und überflog den Brief noch einmal:
»Ath, 1. Juli 1690
Madame! Es steht mir gegenwärtig zum Äußersten, und ich weiß kein anderes Mittel mich zu retten, als ein Wort von Ihrer unvergleichlichen Hand. Wenn ich so glücklich wäre, eines zu erhalten, wäre ich wenigstens ein wenig getröstet. Ich hoffe, Sie sind barmherzig genug, mir diese Gunst nicht zu verweigern. Und da Sie es sind, die meine Leiden verursacht, ist es nur gerecht, dass Sie sie auch lindern. Es liegt also nur bei Ihnen, mich in dem Kummer zu trösten, den die verwünschte Trennung mir bereitet. Ich werde daran auch sehen, ob ich auf das bauen kann, was Sie mir einige Male in Güte gesagt haben. Wenn ich nicht an eine Person schriebe, für die ich ebensoviel Achtung wie Liebe empfände, würde ich Worte finden, die meine Leidenschaft besser ausdrückten. Aber ich unterdrücke sie aus Furcht, Sie könnten sie mir übel nehmen, und bitte Sie nur, mich ein wenig in Ihrer Erinnerung zu bewahren und versichert zu sein, dass ich bin Ihr untertäniger Sklave.«
Der Brief gefiel ihm nicht. Gern hätte er Sophie Dorothea geschrieben, welche Bilder und Gefühle ihm durch den Kopf gingen, wenn er an sie dachte. Aber er war sich nicht sicher, wie sie dies aufnehmen würde. Ach, es gab vieles, dessen er sich nicht sicher war. Es ärgerte ihn, dass Sophie Dorothea ihm zuletzt in der Öffentlichkeit so oft die kalte Schulter gezeigt hatte. Wenn sie in der Oper neben ihrem Gatten in der herzoglichen Loge saß, tat sie, als würde sie ihn nicht kennen. Mochte sie ihm auch erklären, unter welchem Druck sie stand und wie sie selbst litt. Es schmerzte ihn, und er schrieb ihr fast jeden Tag, welche Qualen ihm diese zur Schau gestellte Zurückweisung bereitete. Da er mit seinem Regiment in diesem Sommer nicht mehr zum Einsatz kam, nutzte er die Zeit zum Schreiben. »Süße Dicke«, nannte er sie, »Meine Schöne.«
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