65Während vorläufige Festnahmen nur vorbereitenden Charakter haben, führen richterliche Haftbefehle vor Rechtskraft eines Urteils zur Untersuchungshaft, die in erster Linie dazu dient, die Anwesenheit des Beschuldigten während des Verfahrens zu erzwingen. Untersuchungshaft hat daher den Zweck, die Durchführung des Strafverfahrens zu gewährleisten und die spätere Strafvollstreckung sicherzustellen 177. Die Sicherung der Strafvollstreckung ist jedoch nur ein sekundärer Zweck; primär soll das Urteil im Erkenntnisverfahren ermöglicht werden. Daher scheidet Untersuchungshaft keinesfalls aus, wenn Zweifel daran bestehen, ob die spätere Strafvollstreckung z. B. wegen Gebrechlichkeit oder Krankheit des dann Verurteilten überhaupt jemals stattfinden wird 178. Im Gegensatz zur Vorführungbeschränkt sich die Vollstreckung eines Haftbefehls aber nicht darauf, den Angeklagten dem Richter schlicht zuzuführen 179, sondern ist darauf gerichtet, dem Beschuldigten die körperliche Bewegungsfreiheit bis auf Weiteres zu entziehen. Die Untersuchungshaft ist damit Freiheitsentziehung im Sinne von Art. 104 Abs. 2 GG.
Trotz der Unschuldsvermutung nach Art. 6 Abs. 2 MRK mutet der Gesetzgeber dem Beschuldigten den gravierenden Eingriff der Untersuchungshaft zu, wenn seine Anwesenheit nicht anders gewährleistet ist, denn Hauptverfahren in Abwesenheit des Angeklagten sind im deutschen Strafverfahrensrecht auf wenige Ausnahmen beschränkt. Die klassischen Voraussetzungen der Anordnung der Untersuchungshaft werden in §§ 112 ff. StPO geregelt. Für die Praxis ist aber auch der Untersuchungshaftbefehl nach § 230 Abs. 2 von großer Bedeutung, weil danach schon das unentschuldigte Ausbleibendes Angeklagten in der Hauptverhandlungzur Verhängung der Untersuchungshaft ausreicht 180. Ist wegen fehlender oder verminderter Schuldfähigkeit kein Haftbefehl möglich, kommt aber die spätere Unterbringung in ein psychiatrisches Krankenhaus oder in eine Entziehungsanstalt in Betracht, so tritt an die Stelle der Untersuchungshaft die einstweilige Unterbringungnach § 126a 181. Im Bußgeldverfahren sind nach § 46 Abs. 3 OWiG Untersuchungshaft, vorläufige Festnahme und Anstaltsunterbringung unzulässig.
66Das Jugendamt zeigt den B. wegen Unterhaltspflichtverletzung (§ 170b StGB) an, da B. seit fünf Jahren für seinen nichtehelichen Sohn S. zuerst nur stockende, dann überhaupt keine Unterhaltsleistungen mehr erbracht habe. B. sei in dieser Zeit zwar meist arbeitslos gewesen, als Ingenieur hätte er jedoch leicht eine Arbeitsstelle finden können. Seit 3 Monaten arbeite er auf einer Baustelle in Saudi-Arabien und werde voraussichtlich erst in zwei bis drei Jahren wieder in die Bundesrepublik zurückkehren.
67Wenn sich B. dem Verfahren nicht freiwillig stellt, käme die Erzwingung seiner Anwesenheit durch den Erlass eines Haftbefehls in Betracht, der möglicherweise im Wege der Rechtshilfe oder eher bei zwischenzeitlichen Aufenthalten des B. in der Bundesrepublik vollstreckt werden könnte. Erste Voraussetzung dafür ist nach § 112 Abs. 1 der dringende Tatverdacht.Dies bedeutet, dass nach gegebenem Verfahrensstand ein hoher Grad der Wahrscheinlichkeit besteht, dass der Beschuldigte verurteilt werde 182. Eine nur „überwiegende“ Wahrscheinlichkeit genügt nicht. Missverständlich, aber in der Sache nichts anderes besagend ist die zuweilen anzutreffende Definition des dringenden Tatverdachts als „große Wahrscheinlichkeit, dass der Beschuldigte Täter oder Teilnehmer einer Straftat ist“ 183. Denn wenn Rechtfertigungs- oder Schuldausschließungsgründe eingreifen, ist der dringende Tatverdacht unstrittig abzulehnen 184. Gleiches gilt für nicht behebbare Strafverfolgungshindernisse. Nur auf einen an sich erforderlichen Strafantrag kann gem. § 130 vorübergehend verzichtet werden. Allerdings ist das Vorliegen von Rechtswidrigkeit, Schuld und der meisten Prozessvoraussetzungen der Regelfall, von dem mangels gegenteiliger Anhaltspunkte auszugehen ist. Die Maßgeblichkeit einer Verurteilungsprognoseund nicht nur objektiver Täterschaft wird auch daran ersichtlich, dass der dringende Tatverdacht nur auf solche Beweise gestützt werden darf, die auch verwertbar sind 185.
Dringender Tatverdacht setzt eine höhere Intensität des Tatverdachts voraus, als zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens erforderlich ist, das nur zureichendetatsächliche Anhaltspunkte verlangt. Die Prognose über die Verurteilungswahrscheinlichkeit beruht auf dem jeweiligen Ermittlungsstand und wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass noch Unklarheiten und aufklärungsbedürftige Lücken der Ermittlungsergebnisse verbleiben. Ein hinreichenderTatverdacht i. S. von § 203, der zur Eröffnung des Hauptverfahrens notwendig ist, braucht nicht gegeben zu sein, denn hinreichender Tatverdacht wird durch die Verurteilungswahrscheinlichkeit nach Abschluss der Ermittlungen gekennzeichnet 186. Der dringende Tatverdacht bezeichnet zwar einen vergleichsweise höheren Grad der Wahrscheinlichkeit; der hinreichende Tatverdacht beruht aber dafür seinem Begriff nach auf einer Ausschöpfung aller wesentlichen Aufklärungsmöglichkeiten und Erkenntnisquellen 187. Dringender Tatverdacht wird demnach nicht durch Unsicherheiten im Tatsächlichen ausgeschlossen; hingegen muss der angenommene Sachverhalt alle rechtlichen Voraussetzungen erfüllen, die für eine Verurteilung des Beschuldigten notwendig sind. In Rechtsfragen ist eine Wahrscheinlichkeitsbeurteilung nicht durchzuführen.
Aus der Anzeige des Jugendamtes, die Glaubwürdigkeit für sich beanspruchen kann, ist zu entnehmen, dass B. mit großer Wahrscheinlichkeit die Tatbestandsmerkmale des § 170b StGB erfüllt hat. Er ist seinem nichtehelichen Sohn gegenüber unterhaltsverpflichtet. Wenn B. jahrelang trotz Leistungsfähigkeit keiner Beschäftigung nachgeht, verletzt er damit seine gesetzliche Unterhaltspflicht. Nach vorliegendem Ermittlungsstand ist also damit zu rechnen, dass B. wegen Unterhaltspflichtverletzung verurteilt wird. Dringender Tatverdacht kann somit bejaht werden.
68Die zweite Voraussetzung für die Anordnung der Untersuchungshaft ist ein Haftgrund(Flucht, Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr). Fluchtoder Verborgenhaltenliegen vor, wenn der Beschuldigte vorsätzlich seinen bisherigen räumlichen Lebensmittelpunkt aufgibt, um für die Strafverfolgungsbehörden unerreichbar zu sein 188. Beispielsweise liegt dies vor, wenn er ständig den Aufenthaltsort wechselt oder falsche Namen benutzt. „Flucht“ beinhaltet nach richtiger Auffassung stets eine räumliche Komponente; daher überzeugt es nicht, wenn nach der Rechtsprechung z. T. darunter auch Situationen gefasst werden, in denen sich der Beschuldigte bewusst in einen Zustand der Verhandlungsunfähigkeit versetzt, aber sonst körperlich anwesend ist 189. Eine solche extensive Auslegung des Fluchtbegriffs ist auch aus praktischen Gründen nicht mehr erforderlich, seit in § 231a diese Konstellation ausdrücklich geregelt ist. Im Fall wäre an den Haftgrund der Flucht zu denken, da B. sich in Saudi-Arabien aufhält und damit für die Strafverfolgungsbehörden nicht erreichbar ist. Jedoch setzt „Flucht“ voraus, dass sich der Beschuldigte der Strafverfolgung bewusst entzieht 190. B. ist demgegenüber berufsbedingt im Ausland aufhältlich. Ihm kann nicht unterstellt werden, er habe sich schon in Erwartung eines drohenden Strafverfahrens ins Ausland abgesetzt, denn alle Haftgründe des § 112 Abs. 2 müssen aufgrund bestimmter Tatsachen begründet sein 191. Aus diesem Grund kann auch nicht in den Fällen einfach Flucht angenommen werden, in denen der gegenwärtige Aufenthaltsort des Beschuldigten den Ermittlungsbehörden schlicht unbekannt ist und dieser vielleicht nicht einmal weiß, dass ein Verfahren gegen ihn anhängig ist.
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