52aIn materiellrechtlicher Hinsicht wird § 136a neben den unspezifischen Tatbeständen der Freiheitsberaubung, Körperverletzung im Amt (§ 340) und Nötigung (§ 240 Abs. 1, 4: Amtsnötigung als besonders schwerer Fall) durch den Verbrechenstatbestand der Aussageerpressungnach § 343 StGB flankiert. Dieser gilt aber nicht für alle in § 136a genannten Methoden (z. B. nicht für die Täuschung), sondern nur bei körperlicher Misshandlung, Gewalt, Drohen mit Gewalt und Quälerei. Wie § 136a findet der Straftatbestand der Aussageerpressung, der infolge seiner Strafandrohung von mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe automatisch zur Entfernung des Beamten aus dem Dienst führt, nur im Strafverfahren und in ähnlichen Verfahren (Bußgeld, Disziplinarverfahren, berufs- und ehrengerichtliche Verfahren, Verwahrung einer Person) Anwendung und nicht bei einem Handeln der Polizei im Rahmen der Gefahrenabwehr. Dies erfordert schwierige Abgrenzungen, die sich im Fall Gäfgen 137, weit reichend ausgewirkt haben, wo auf Anordnung des Polizeivizepräsidenten dem festgenommenen Beschuldigten Schmerzzufügung durch einen Kampfsportler angekündigt wurde, damit er das Versteck preisgebe und das Opfer gerettet werde. Allerdings ist auch der hier gegebene Tatbestand der Nötigung nicht etwa durch einen rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB) gerechtfertigt, da auch zur Rettung von Menschenleben eine Güterabwägung nicht die Anwendung oder Ankündigung von Folter rechtfertigen kann, was sogar formal aus der Angemessenheitsklausel des § 34 StGB folgt. Dagegen kann man sich in derartigen Entführungsfällen durchaus vorstellen, dass andere Vorschriften (z. B. Kontaktrechte nach § 148) im Rahmen einer Güterabwägung zum Zwecke der Rettung des Opfers einmal zurücktreten müssen 138.
III.Festnahme des Beschuldigten
53Festnahmemaßnahmen stellen Freiheitsentziehungen i. S. von Art. 104 Abs. 2 GG dar. Die Festnahme ist von einem bloßen Festhalten zur Durchführung einer anderen strafprozessualen Zwangsmaßnahme zu unterscheiden; letzteres ist nur als Freiheitsbeschränkung zu werten und unterliegt nicht dem Richtervorbehalt nach Art. 104 Abs. 2 139. Ihre Rechtmäßigkeit ergibt sich aus dem Vorliegen der Voraussetzungen der Ermächtigungsnorm, die zu dem jeweiligen prozessualen Zwangsakt legitimiert und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. So erlaubt § 81b die Durchführung einer erkennungsdienstlichen Behandlung und gestattet zu seiner Durchführung ein Festhalten des Beschuldigten auf einer Polizeidienststelle, bis der Vorgang abgeschlossen werden kann, ohne dass zusätzlich die Anordnung einer Festnahme erforderlich wäre 140. Demgegenüber zielen Festnahmen primär auf die Aufhebung der körperlichen Bewegungsfreiheit des Beschuldigten ab.
54Die wesentlichste Ermächtigungsgrundlage für vorläufige Festnahmen ist § 127. Sinn und Zweck der Vorschrift ist es, in Eilsituationen einer Person habhaft zu werden, damit eine richterliche Entscheidung über die Anordnung der Untersuchungshaft ergehen kann 141. Die vorläufige Festnahme ist weder Selbstzweck noch als vorübergehende Erleichterung anderer Ermittlungstätigkeiten zu verstehen. Schon gar nicht dient sie präventiven Zwecken, so dass die Festnahme von strafunmündigen Kindern nach § 127 ausscheidet 142. Die Festnahme ist auf eine Vorführung beim Richter (§ 128) gerichtet, der die weiteren Haftentscheidungen zu fällen hat. Werden Straftaten während einer Gerichtsverhandlung begangen, so kann gem. § 183 GVGdie vorläufige Festnahme durch ein ansonsten nicht zuständiges Gericht verfügt werden. Zur Erleichterung und Vorbereitung des beschleunigten Verfahrens 143hat der Gesetzgeber mit § 127beine neue Grundlage zur vorläufigen Festnahme durch die StA oder die Beamten des Polizeidienstes geschaffen. Eine völlig anders geartete Zielrichtung liegt vorläufigen Festnahmen nach § 164zugrunde. Danach können bis zum Ablauf einer Maßnahme nicht nur Beschuldigte, sondern auch andere Personen festgenommen werden, die bei der Durchführung einer strafprozessualen Amtshandlung vorsätzlich stören oder sich dabei zulässigen Anordnungen widersetzen. Wegen des Grundsatzes der Einheit der Rechtsordnung sind diese Ermächtigungsnormen auch alle als Rechtfertigungsgründe i. S. d. materiellen Strafrechts anzusehen.
55Der Hauswart H. sieht sich zur Entspannung regelmäßig die Fernsehsendung „Kriminalreport“ an. Dort werden eines Abends Phantombilder mehrerer mutmaßlicher Vergewaltiger gezeigt sowie ein von einer versteckten Kamera in einer Bank aufgenommenes Foto des B., wie dieser den Kassierer der Bank mit einer Waffe bedroht und zur Herausgabe von Bargeld zwingt. In der Sendung wird mitgeteilt, dass nach B. öffentlich zum Zwecke seiner Festnahme gefahndet werde. Am nächsten Morgen begegnet H. zufällig dem Freund der neuen Mieterin und erkennt in diesem eindeutig den am Vorabend gezeigten Bankräuber B. Geistesgegenwärtig schließt H. den B. in der Wohnung ein, um B. von der Polizei abholen zu lassen. Als die Beamten erscheinen, erstattet zunächst B. gegen H. Anzeige wegen Freiheitsberaubung.
56H. hat den Tatbestand des § 239 StGB erfüllt. Die Rechtswidrigkeit könnte jedoch durch das Eingreifen des Rechtfertigungsgrundes nach § 127 Abs. 1 StPO ausgeschlossen sein. Danach ist jedermannbefugt, Personen, welche auf frischer Tat betroffen oder verfolgt werden, vorläufig auch ohne richterliche Anordnung festzunehmen, wenn diese Personen der Flucht verdächtig sind oder ihre Identität nicht sofort festgestellt werden kann (sog. Flagranzfestnahme). Der Begriff „jedermann“ ist wörtlich zu nehmen. Die Vorschrift gestattet daher auch Privatpersonen,durch vorläufige Festnahmen die Strafverfolgung zu sichern, sofern sie nicht gegen den erklärten Willen der Strafverfolgungsbehörden handeln 144. Unter den Begriff „jedermann“ fallen ebenfalls Staatsanwälteund Polizeibeamte, die sich außerdem auf den Abs. 2 des § 127 stützen können, was sich schon aus dem Wortlaut des Abs. 2 („auch dann“) ergibt. Dies gilt entgegen der h. M. für beide Alt. des Abs. 1 (Fluchtverdacht und nicht feststehende Identität) 145. Denn § 163b ist im Fall der nicht feststehenden Identität keine Spezialregelung der vorläufigen Festnahme, sondern betrifft nur Personenfeststellungsmaßnahmen, die eventuell einer Festnahmeanordnung nachfolgen, aber auch isoliert stattfinden können. Nichts anderes besagt der Wortlaut des § 127 Abs. 1 S. 2. Der Gesetzgeber wollte lediglich klarstellen, dass – entgegen früher vertretenen Ansichten – die Personenfeststellung selbst nicht mehr auf § 127 Abs. 1 als Ermächtigungsgrundlage gestützt werden soll, der allein Festnahmen rechtfertigt. § 163b ist dagegen keine „kleine“ Festnahmevorschrift, sondern erlaubt nur ein Festhalten als Ausfluss unmittelbaren Zwangs bei der Durchführung von Personenfeststellungen. Die h. M. gelangt zu dem eigenartigen Ergebnis, dass dem Privatmann im Rahmen der Strafverfolgung mehr Rechte zustehen als den Strafverfolgungsbeamten.
Stützt sich ein Staatsanwalt oder Polizeibeamter auf § 127 Abs. 1, so bleibt seine Handlung eine Diensthandlung; nur weil es sich um ein Jedermanns-Recht handelt, geht der amtliche Charakter seines Tuns nicht verloren. Letztlich wird auch der Privatmann stellvertretend für die Strafverfolgungsbehörden tätig und ist verpflichtet, den Festgenommenen diesen so schnell wie möglich zuzuführen 146. Der Hauswart H. kann sich demnach als Privatperson auf § 127 Abs. 1 berufen, wenn dessen weitere Voraussetzungen gegeben sind.
57Das Gesetz lässt die Festnahme von Personen zu, die auf frischer Tat betroffen, d. h. während oder unmittelbar nach der Tatbegehung in räumlicher Nähe zum Tatort bemerkt werden 147. Ein solcher räumlich-zeitlicher Zusammenhang zum Raubüberfall des B. ist für H. nach Ausstrahlung der Fernsehfahndung nicht erfüllt. Es käme aber als zweite Alternative Verfolgung auf frischer Tatin Betracht. Diese ist gegeben, wenn sich der Täter bereits vom Tatort entfernt hat, aber sichere Anhaltspunkte auf ihn als Täter hinweisen und kurz nach der Tat die Verfolgung zum Zwecke seiner Ergreifung aufgenommen wird 148. Solche sicheren Merkmale können z. B. eine markante Täterbeschreibung oder am Tatort verlorene Papiere sein 149. Der Verdacht muss praktisch sofort auf eine ganz bestimmte Person fallen. Betreffen und Verfolgung auf frischer Tat unterscheiden sich daher nicht in der zeitlichen, sondern nur in der räumlichen Komponente. Die Verfolgung muss nicht unbedingt auf Sicht und Gehör stattfinden, aber doch wie z. B. bei einer Ringalarmfahndung in akuten Ergreifungsbemühungen bestehen. Andauernde Verfolgungstätigkeit unterliegt auch keinen zeitlichen Begrenzungen 150. Ist aber der Verfolgungszusammenhang einmal unterbrochen, scheidet die Flagranzfestnahme aus und es bedarf eines Haftbefehls.
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