1 ...6 7 8 10 11 12 ...18 Jenny googelte ›Jeansladen‹, obwohl es nun vermutlich ›scribbeln‹ hieß. Ein Geschäft namens Weekday war nicht weit entfernt. Den Weg zur Friedrichstraße kannte sie. ›Scribble-Go-To‹ berechnete etwas mehr als zwei Kilometer. In etwa vierzehn Minuten zu erreichen. Scribble bot auch gleich die schnellste Route zu Fuß an, denn es schien erkannt zu haben, dass sie zu Fuß unterwegs waren. Bei ›Maps‹ wählte man, ob man sich mit dem Auto, dem Zug oder zu Fuß bewegte. Aber egal: die Route stand! Ein Klacks – und für einen Engel sowieso.
Sie merkte sich, die Paul-Löbe-Allee entlangzulaufen, und zwar in Richtung des Platzes der Republik, nach rechts abzubiegen, um zum Reichstagsufer zu kommen, um dann wieder nach rechts in die Friedrichstraße abzubiegen. Es war einfach. Scheinbar hatte sich hier nichts geändert. Die Straßennamen waren immer noch die, die sie kannte, auch wenn sich das Auftreten der Leute, die Technik und das Klima verändert zu haben schienen. Jenny fand das interessant. Und sie fragte sich, wie weit sie wohl in der Zukunft gelandet war.
Rocco stand an einer Sandsteinsäule gelehnt, dort, wo sie ihn abgestellt hatte. Hinter ihm klebte ein Plakat, das Jenny kaum beachtete. Ein weißer Untergrund und darauf nur vier Buchstaben in fetter roter Farbe: ›SPES.‹
Das war ja spannend, stellte sie für sich fest, als sie zu ihm trat. Obwohl sie Rocco nicht sahen, machten die meisten Menschen einen Bogen um ihn. Vielleicht ging etwas von ihm aus, das sie einen Abstand wahren ließen. Wahrscheinlich, so mutmaßte sie, war das sein durchdringender Geruch, den er verbreitete. Irgendetwas aus der Welt der Engel kam also doch bei den Menschen an. Jenny spürte eine kleine Hoffnung auf einen Weg zurück in die Welt der Lebenden.
Der junge Mann, dessen Smartphone sie geklaut hatte, hatte sich einige Meter entfernt. Doch er war sofort zu erkennen, denn die Hände des vermeintlichen Kopfgeldjägers aus Star-Wars gestikulierten wild einer Ordnungskraft gegenüber herum, seine Augen waren gerötet und er schien so abgrundtief verzweifelt, dass Jenny fast lachen musste, so lächerlich wirkte er, wäre er wirklich ein Kopfgeldjäger. Dabei war er doch gar nicht gestorben, nicht einmal verletzt, keine Gliedmaße war ihm im Reichstag abhandengekommen, obwohl er so am Boden zerstört wie nach einer Amputation wirkte. Seine linke Hand wies immer wieder auf seine rechte, die ja noch da war, aber die Verlängerung der rechten Hand fehlte. Dabei hatte er doch nur sein Smartphone verloren. – Na ja, sie hatte es ihm geklaut.
Sie sah Rocco an. Seine Augen waren in erstaunter Missbilligung weit offen und sein Blick klebte abschätzig auf dem jungen Mann. Als ob er sich festhalten musste, griff Rocco nach Jennys Arm.
»Was hat er für ein Problem? Sein Handy ist seit vielleicht zwei Minuten verschwunden! Er verhält sich, als ob er Mutter und Vater verloren hätte, nein schlimmer!« Rocco sah ihr in die Augen, doch sie war ebenso ratlos wie er und gab ihm keine Antwort. Stattdessen sandten ihre Augen ihm eine andere Botschaft, von der sie selbst nichts wusste. Da sah er Jenny ganz genau an, ohne selbst zu bemerken, wie er sie anstarrte. Er musterte sie: Schlank war sie und von mittlerer Größe, es war das erste Mal, dass ihm ihre braunen, wunderbar glänzenden langen Haare auffielen und ihre grünen Augen mit ein wenig Grau darin. Der Glanz ihrer Augen war ein weicher Glanz, ein empfindsamer Blick, ein feines Radar, um kleinste Impulse aufzunehmen. Ihre schmalen Lippen, die Entschiedenheit und Gewissheit ausstrahlten, ihre hohe Stirn, die ihm Intelligenz vermittelte, sie aber auch etwas kindlich wirken ließ. Wie alt sie wohl war – oder gewesen war?
»Ich muss es ihm wiedergeben. Er dreht sonst ganz durch!«, sagte Jenny schließlich, um dem Leiden des jungen Mannes ein Ende zu bereiten. Das aber war gar nicht so einfach. Er war nun in Tränen ausgebrochen und zappelte unkoordiniert suchend. ›Wo ist mein Handheld, wo ist mein Handheld?!‹, las Jenny aus seinen Gedanken.
Jenny stutzte. ›Warum heißt das Gerät Handheld?‹, fragte sie sich. Sie zögerte nun, ihm das Gerät zurückzugeben, und beschloss, noch schnell den Begriff ›Handheld‹ zu suchen. ›Europädia‹ las sie auf dem Startbildschirm, was wie ›Wikipedia‹ klang und etwas Ähnliches war, und sie gab ›Handheld‹ ein. Sie überflog den Text, fasste das Wichtigste zusammen und berichtete Rocco gleich, um was sich bei einem ›Handheld‹ handelte: Man sprach allgemein von ›Handhelds‹, weil sie mit einer Hand zu halten waren und alle Funktionen einhändig ausgeführt werden konnten. Doch das war nicht der wahre Grund. Der Begriff ›Smartphone‹ lag in seiner Bedeutung zu dicht bei ›Apple‹ und der angebissene Apfel war auch in der Technikwelt zum Sinnbild der Verführung geworden, nachdem Apple, saturiert, aber nicht mehr kreativ, vor zehn Jahren begonnen hatte, Minderjährigen Finanzierungsangebote für immer noch beneidenswertere Topmodelle eines Smartphones zu senden – was arme Familien mit mehreren Kindern in ernste Schwierigkeiten brachte, nachdem die Kinder das Angebot angenommen hatten und aus den Verträgen nicht mehr herauskamen. So hatte Apple ›Jobs‹ retten wollen, den Gründer und seinen Nimbus – nicht die Arbeitsplätze.
Rocco nickte nachdenklich, während sie referierte. Der arme junge Mann ohne Handheld saß zusammengekauert in der Hocke, er weinte hemmungslos. Die Ordnungskraft tippte Ziffern in ihr Handheld. Der Rettungsdienst, vermutete Rocco.
Jenny beschloss, ihn zu erlösen. ›Hier ist es‹, sagte sie ihm wortlos und hielt ihm das Handheld mit zwei Fingern entgegen, sodass es wieder in der Luft schwebte. Schlagartig richtete er sich auf und sah das Gerät ungläubig an. Gierig griff er danach und atmete erleichtert aus. Das so wichtige Körperteil war wieder angenäht.
›Wann waren zehn Jahre zuvor?‹, schoss Jenny plötzlich noch diese für sie wichtige Frage erschrocken durch ihren Kopf. Das Handheld zeigte ganz sicher das aktuelle Datum wie die Smartphones zu ihrer Zeit. Sie hatte einfach darüber hinweggesehen. Doch das Gerät war weg! Sie selbst hatte es zurückgegeben. Was für ein Mist! Jenny stampfte ihren Fuß, ihr Kreuz durchgedrückt, trotzig auf den Betonboden. Rocco legte seine Hand beruhigend auf ihre Schulter, auch wenn er nicht wusste, was sie aufregte.
Die Ordnungskraft steckte ihr eigenes Handheld ein und legte ihre Hand tröstend auf den Arm des jungen Mannes. »Sie haben es in einer Tasche gehabt, in Ihrer Thermo-Funktions-Scanner-Hose vielleicht«, versuchte sie den jungen Mann zu beruhigen, da sie offenbar nicht gesehen hatte, wie es zu ihm zurückgekommen war.
Doch er war geistesgegenwärtig. Schließlich hatte er sein Gehirn ja nun wieder. Er sah sich an, was zuletzt gescribbelt worden war. Das war ein Jeansladen, nicht weit weg. So etwas hatte er nicht gesucht. Hier ging etwas vor, das er sich nicht erklären konnte. Ratlos schüttelte er seinen Kopf. Er steckte das Handheld mit spitzen Fingern in seine Jackentasche, als ob es verseucht wäre. Jenny neigte ihn beobachtend ihren Kopf zur Seite. ›Vielleicht vermutet er fremde Krankheitserreger auf seinem Gerät?‹, dachte sie. So wie er das Gerät kaum berührt hatte, musste seine Angst vor Viren und Bakterien sehr ausgeprägt sein. Ob diese Angst auch zu dieser Zeit gehörte?
Jenny machte sich mit Rocco auf den Weg. Langsam wurde es unerträglich heiß in Berlin. Sie hatte also ihre Körperlichkeit nicht ganz verloren, denn sie spürte die Hitze und sie schwitzte. Ein beruhigendes Gefühl. Es musste ein besonderer Sommer sein.
»Du kannst da nicht rein!«, erklärte sie ihm, als sie vor dem Jeansladen angekommen waren. »Du stinkst zu sehr!«
»Das merkt doch keiner!«
»Eben doch«, sagte sie im Brustton der Überzeugung. Er fragte nicht nach. »Welche Größe hast du?«
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