Eis trafen wir nur in geringer Menge, und was wir davon sahen, war äußerst zerfressenes Buchten- oder Flusseis. Ich glaube kaum, dass wir während des ganzen Tages eine einzige Scholle erblickten, die groß genug war, um darauf einen Seehund auszuweiden. Wirkliches altes Treibeis, wie man es an der Nordküste Spitzbergens antrifft, hatten wir noch nicht gesehen. In Bezug auf die Beschaffenheit des Eises findet zwischen dem Karischen Meer und dem Meer nördlich und östlich von Spitzbergen eine vollständige Ungleichheit statt. Eine andere auffallende Verschiedenheit liegt in dem Mangel an warmblütigen Tieren, welcher in dieser bisher von aller Jagd verschont gebliebenen Gegend vorherrscht. Im Laufe des Tages hatten wir nicht einen einzigen Vogel gesehen, ein Umstand, der mir vorher nie während einer Sommerfahrt in den arktischen Gegenden begegnet ist, und ebenso war kaum ein Seehund zu erblicken gewesen.
Am 19. August fuhren wir fort, längs der Küste teils zu segeln, teils zu dampfen, meist in einem äußerst dichten Nebel, welcher sich nur zeitweise soweit zerteilte, dass die Küstenlage unterschieden werden konnte. Um nicht getrennt zu werden, mussten beide Fahrzeuge oft mit der Dampfpfeife Signale geben. Das Meer war glatt wie ein Spiegel. Nur wenig und stark zerfressenes Eis zeigte sich ab und zu; im Laufe des Tages aber dampften wir an einem ausgedehnten, ungebrochenen, landfesten Eisfeld vorbei, welches eine Bucht an der westlichen Seite der Tscheljuskin-Halbinsel einnahm. Das Eis, aus dem dasselbe bestand, erschien im Nebel ungeheuer stark und hoch, obgleich es in Wirklichkeit beinahe ebenso zerfressen war wie das, welches die Eisstreifen bildete, die uns hier und da auf dem Meer begegneten.
Der Nebel hinderte alle weite Aussicht über das Meer, und ich fürchtete bereits, dass die nördlichste Spitze Asiens so eisumschlossen sein würde, dass wir nicht an derselben würden landen können. Bald aber schimmerte eine dunkle, eisfreie Landspitze im Nordosten aus dem Nebel hervor. Ein nach Norden offener Busen schnitt hier in das Land hinein, und in diesem warfen beide Fahrzeuge am 19. August um 6 Uhr nachmittags Anker.
Wir hatten jetzt ein jahrhundertelang vergebens erstrebtes Ziel erreicht: Zum ersten Mal lag ein Fahrzeug an der nördlichsten Landspitze der Alten Welt vor Anker. Es ist deshalb nicht zu verwundern, dass dieses Ereignis durch Aufhissen der Flaggen und durch Kanonensalute sowie später, nachdem wir von unserem Ausflug ans Land zurückgekehrt waren, durch eine Festlichkeit an Bord mit Wein und Toasten gefeiert wurde.
Die Vega und die Lena, das Kap Tscheljuskin salutierend
Ebenso wie bei unserer Ankunft am Jenissej wurden wir auch hier von einem großen Eisbären empfangen, den wir schon vor dem Ankern der Fahrzeuge am Strand auf- und abgehen und dann und wann unruhig ausschauen und nach dem Meer zu schnüffeln sahen, um zu erforschen, welch merkwürdige Gäste jetzt zum ersten Mal in sein Reich eingedrungen waren. Ein Boot wurde ausgesetzt, um ihn zu erlegen; Brusewitz war der auserkorene Schütze, der Bär aber hütete sich, diesmal mit unseren Gewehren nähere Bekanntschaft zu machen. Die Kanonensalute veranlassten ihn so vollständig zur Flucht, dass er nicht einmal, wie die Bären sonst zu tun pflegen, am folgenden Tag wiederkam.
Die Nordspitze Asiens bildet eine niedrige, durch einen Busen in zwei Teile getrennte Landzunge, deren östlicher Arm sich ein wenig weiter nach Norden erstreckt als der westliche Arm. Ein Bergrücken mit allmählich abfallenden Seiten zeigt sich von der östlichen Spitze in südlicher Richtung in das Land hinein und scheint bereits innerhalb des Gesichtskreises eine Höhe von dreihundert Metern zu erreichen. Gleich dem darunterliegenden Flachland war seine Krone beinahe schneefrei; nur an den Seiten des Berges oder in tiefen, von Schneebächen ausgegrabenen Furchen und kleinen Tälern auf der Ebene waren große weiße Schneefelder sichtbar. Ein niedriger Eisrand stand noch an den meisten Stellen längs des Strands. Aber kein Gletscher wälzte seine blauweißen Eismassen an den Seiten der Berge herab, und keine Eisseen, keine hervorspringenden Felsblöcke, keine hohen Bergspitzen verschönerten das Bild der Landschaft, welche die einförmigste und ödeste war, die ich im hohen Norden gesehen habe.
Überall war der Boden, ebenso wie auf dem Eiland, an welchem wir am 11. August vor Anker lagen, in mehr oder weniger regelmäßige Sechsecke zersprungen, deren inneres Feld gewöhnlich von Wachstum entblößt war, während aus den Sprüngen verkrüppelte Blumengewächse, Flechten und Moose hervorsprossen. An einigen Stellen war der Boden jedoch mit einer aus Moosen, Flechten, Gras und Halbgras gebildeten Pflanzenmatte bedeckt; doch waren die Blumengewächse hier weniger zahlreich, die Moose verkrüppelter und weniger fruchttragend. Auch die Flechtenflora war, nach Dr. Almquists Untersuchung, einförmig, obgleich häufig ganz üppig entwickelt. Am reichsten an Gewächsen war der äußerste Vorsprung der Landspitze. Es hatte beinahe das Aussehen, als ob viele der Gewächse des Taimurlandes versucht hätten, von hier aus weiter nach Norden zu wandern, dabei aber, als sie das Meer angetroffen, dort geblieben wären, außerstande weiterzukommen und nicht geneigt, wieder umzukehren.
Alle Flüsse waren jetzt ausgetrocknet, aber ausgedehnte flache Flussbetten gaben zu erkennen, dass zur Zeit der Schneeschmelze ein reicher Wasserfluss hier stattfand. Das Gemurmel der Schneebäche und das Vogelgeschrei durchbrechen dann gewiss die Einsamkeit und das Schweigen, welches jetzt über den kahlen, beinahe allen Wachstums entblößten Lehmbetten des Flachlands ausgebreitet liegt. Wahrscheinlich kann man jedoch etwas weiter im Land, in irgendeinem gegen die Winde des Nordmeers geschützten Talgang ganz andere Naturverhältnisse, ein reicheres Tier- und Pflanzenleben finden, welches Letztere während der Sommerzeit ebenso blumenreich sein mag wie das, welches uns in den Talgängen des Eisfjords und der »Namenlosen Bucht« [der Besimannaja-Bai] entgegentritt [Spitzbergen]. Menschenspuren sahen wir hier nicht. Die Erzählungen, welche bereits um das Jahr 1600 herum über die Beschaffenheit der Nordspitze Asiens im Umlauf waren, machen es jedoch wahrscheinlich, dass die sibirischen Nomaden ihre Rentierherden auch manchmal bis hier hinaus getrieben haben. Es ist sogar nicht unmöglich, dass russische Fangmänner von Chatanga auf der Nordspitze des Taimurlandes gejagt haben; und dass Tscheljuskin [russischer Forscher, der 1742 als Erster diesen Punkt auf dem Landweg erreichte] wirklich hier gewesen ist, davon zeugt die auf russischen Karten ganz richtige Darstellung des Vorgebirges, welches jetzt mit Recht seinen Namen trägt.
Felsenblümchen (Draba) vom Kap Tscheljuskin
Um eine gute astronomische Ortsbestimmung dieses wichtigen Punktes zu erhalten, blieb ich hier bis zum 20. August mittags.
Unserem Reiseplan gemäß wollte ich von hier aus direkt nach Osten nach den Neusibirischen Inseln fahren, um zu sehen, ob man nicht auf diesem Weg Land antreffen würde. Am 20. und 21. ging es in dieser Richtung ziemlich unbehindert vorwärts zwischen zerstreutem Treibeis, welches stärker und auch weniger zerfressen war als das, welches wir an der Westseite des Taimurlandes getroffen hatten. Auch einige sehr große Eisschollen kamen vor, aber keine Eisberge. Übrigens wurden wir wieder von einem so starken Nebel begleitet, dass wir nur die Eisfelder und Eisstücke in der unmittelbaren Nachbarschaft des Fahrzeugs sehen konnten. Außer dreizehigen Möwen sahen wir auch Alken, welcher Vogel sonst im Karischen Meer beinahe ganz fehlt. Johannesen [norwegischer Kapitän, der bereits 1869 auf einer Fangfahrt Beli-Ostrow erreichte] glaubte, das Vorhandensein dieses Vogels beweise, dass das Meer im Winter nicht vollständig zufriere, da es sich nicht annehmen lasse, dass die Alken im Herbst und im Frühjahr über das zugefrorene Karische Meer fliegen würden, um hier ihre Nahrung und ihre Brutplätze zu suchen.
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