Mitten in der Wüste begegneten uns diese Trupps, durchweg zerlumpt, mit schweren Lasten bepackt, bei jedem Schritt bis über die Knöchel im Sand versinkend. Meist mussten sich die armen Frauen totschleppen; der Mann, der Herr, trug höchstens ein Wassergeschirr!
Die Leiden und Mühsale der Flüchtlinge sind ganz ungeheuer. Nur der von Jugend auf an die schwersten Entbehrungen gewöhnte Körper vermag solche Qualen zu überwinden, die uns Europäern unfassbar erscheinen.
Der Kommandant von Schin-schin-schja hatte befohlen, die wehrhaften, kräftigen Männer unter den Flüchtlingen auszumustern, sie in Uniformen zu stecken und der Grenzgarnison zuzuweisen. Das war die größte Enttäuschung für die Familienväter, die ihre Heimat doch einzig in der Hoffnung verlassen hatten, den Lasten in Kansu zu entfliehen und ihr kümmerliches Dasein unter günstigeren Lebensbedingungen in Sinkiang fristen zu können.
Um der Gerechtigkeit willen möchte ich aber doch betonen, dass der Generalgouverneur in Tihwa Maßnahmen getroffen hatte, alle die Flüchtlingsscharen, die von Kansu herbeiströmten, zielbewusst und planmäßig im Westen Sinkiangs und in der Gegend von Tihwa anzusiedeln. Die Abwanderer von Kansu stellen im Allgemeinen ein sehr übles Pack dar. Der bessere Teil der Leute bleibt meist schon im Nordwesten von Kansu hängen, also in den großen Städten zwischen Liang-tschou und An-hsi.
Es bedarf kaum des Hinweises, dass die Soldateska in Schin-schin-schja, die zum großen Teil aus solchen Verzweifelten besteht, keine Zierde dieser Garnison ist. Der Anblick jener Enterbten war oft grauenerregend. Sie waren von allem entblößt; jede Lebensfreude war ihnen verkümmert. Die größte Erbitterung herrschte über die unerschwinglich hohe Opiumsteuer, die auch jene hatten zahlen müssen, die niemals Opium angebaut hatten. So gab es nur einen Weg – die Flucht!
Und alle wollten sie nach Ili ziehen, dem gelobten Land, da Milch und Honig fließt. Doch Ili war weit. Wem es jedoch gelang, das Land der Hoffnung zu erreichen, der war gut aufgehoben. Denn Ili ist reich und das Leben dort billig, der Boden außerordentlich fruchtbar.
Aber was mussten diese Flüchtlinge ertragen haben, wenn schon wir, die wir mit zwei Leiterwagen fahren konnten, unter den klimatischen Unbilden und der Trostlosigkeit der Wüste zu leiden hatten! Die Sonne sandte sengende Strahlen vom Himmel, aber der kühle Wüstenwind gebärdete sich als ein weit ärgerer Feind; denn er peitschte feinen Sand und Staub auf Hände und Gesicht, wo sie wie Millionen Nadelstiche wirkten. Auch die Schneebrillen boten kaum noch Schutz. Jetzt wurde die Durchführung der Messungen zur Qual, besonders auch deshalb, weil der feine Sandstaub sogar durch die beste Verpackung Einlass fand und die Instrumente daher zu allem Überfluss täglich gereinigt werden mussten. Dabei litten wir wirklich keinen Mangel an Pflichten und Arbeit!
Ein überwältigend-schauerliches Bild bieten die Wüstengewitter. Sie brechen so plötzlich herein, dass niemand sich schützen kann. Was war zu tun? Wir stellten wegen des feuergefährlichen Filmmaterials die Wagen möglichst weit voneinander auf. Falls der Blitz einschlug, war so wenigstens nicht alles verloren.
Mit rasender Geschwindigkeit wälzten die tief herabhängenden dunklen Wolken heran, schwarz und tiefbraun getönt; Blitz um Blitz sauste hernieder und beleuchtete die trostlose Landschaft gespenstisch. Der Donner krachte wie schweres Geschützfeuer. Solche Wetter dauern in dieser Zone durchschnittlich eine Stunde lang; dann setzt prasselnd ein wolkenbruchartiger Regen ein. In wenigen Minuten hat er die dürre Sandwüste in einen großen zähen Sumpf verwandelt. Das Wasser sackt verhältnismäßig rasch ab, doch wird der Marsch mit den schwer beladenen Wagen noch viel mühseliger als vorher.
Mehrere Monate Wüstenleben hatten wir endlich hinter uns. Eines Morgens erblickten wir in der Ferne eine lockende Oase, dahinter ansteigende Berge ...
Das war An-hsi, 1300 Meter hoch gelegen, am Fuß der nördlichen Ausläufer des Richthofengebirges. Wie glücklich atmete ich auf, diesen Marsch bewältigt zu haben! Aber gleich bedrängte mich die bange Frage: Wie wird mich das offizielle Kansu aufnehmen? Ich komme doch aus Sinkiang, also direkt aus dem Lager des Feindes!
Mit gemischten Gefühlen ritt ich durch das Stadttor von Anhsi. Aber ich hatte wieder einmal Glück. Der höchste Mandarin war gerade verreist, und so ließ man mich nach Vorzeigen meines chinesischen Passes unbehelligt passieren.
Die nächste Stadt, Su-tschou, war bald erreicht. Sie liegt 280 Meter höher als An-hsi. Dort traf ich bereits einen Herrn der Steyler Mission, der mir von dem katholischen Bischof Buddenbrock aus Liang-tschou in liebenswürdiger Hilfsbereitschaft entgegengesandt war. Er sollte mir bei der Grenzüberschreitung in Kansu Weiterungen mit den Behörden und unnötigen Aufenthalt nach Möglichkeit ersparen. Das war ein großer Dienst. Es gab keinerlei Schwierigkeiten, und ich konnte jetzt meine wissenschaftlichen Messungen unter erheblich angenehmeren Umständen als bisher durchführen.
Die Wegeverhältnisse wurden aber schlechter, da gewaltige Geröllfelder überquert werden mussten; dazu trat die mit Rücksicht auf die empfindlichen Instrumente notwendige behutsame Fahrt. Beides brachte Zeitverlust.
In Kan-tschou (1560 Meter ü. d. M.), das der Provinz den Namen gibt, wurde ich von den chinesischen Behörden höflich aufgenommen und fand neben wohltuendem Verständnis für meine Arbeiten gastfreundliches Quartier in der katholischen Mission, die sich dort einen großen Wirkungskreis geschaffen hat.
Ebenso erfreulich war der Eindruck in Liang-tschou, wo ich in Hsi-siang, dem katholischen Bischofsitz, der Kan-tschou um 200 Meter überragt, mehrere Tage rasten durfte. Der Bischof Buddenbrock hatte die Güte, mir für meine Reise bis Sining-fu Geldmittel vorzustrecken, obgleich er sich selbst in finanziellen Nöten befand, da die Verbindung mit der Küste infolge des chinesischen Bürgerkriegs unterbrochen war.
Ping-fan war mein nächstes Ziel. Wir bewegten uns hier auf der Hauptstraße. Ortschaften und Herbergen in Hülle und Fülle! Nur der Weg war miserabel. Die vielfach versumpften und tückischen Stellen mussten mit Vorsicht umfahren werden.
Außer den Ortschaften fallen dem Wanderer vor allem festungsartige Bauten auf. Sie sind ungefähr einen Kilometer voneinander entfernt angelegt und von Feldern umgeben. Sie wurden zumeist während der Mohammedaneraufstände erbaut. Ganze Familien haben sich in diese drei bis vier Meter starken und sechs bis acht Meter hohen Ringmauern zurückgezogen, auf deren Ecken Verteidigungstürme aufragen. Ein schmaler Zugang mit eisenbeschlagener massiver Tür, der fast stets verrammelt ist, führt ins Freie.
Bald verlassen wir die Ebene, überqueren einen leichten Pass des Richthofengebirges und kommen ins Wassergebiet des Huang-ho. Dem Bett des Ping-fan-ho folgen wir abwärts und erreichen Ping-fan (2140 Meter ü. d. M.). Diese Stadt war mit Militär aller Gattungen und Kriegsmaterial bis in die letzten Winkel vollgepfropft. Wir hatten Mühe, uns durch dieses bunte Gewirr hindurchzuarbeiten.
Man hatte mich vor Ping-fan gewarnt. Der Stadtkommandant sollte auf höheren Befehl Fremde nicht nach Kansu durchlassen. Es waren Kassandrarufe! Ich wurde angenehm enttäuscht. Die chinesischen Beamten gaben mir nach Prüfung meines Passes ohne Weiteres die Erlaubnis, den Weg nach Sining-fu fortzusetzen.
Ehe wir nun den Weitermarsch antreten, möchte ich an dieser Stelle einige Worte über die Vorbereitungen sagen, die Marschall Feng-Yu-Hsiang getroffen hatte, um eine möglichst gute Verbindung zwischen Kansu und Sinkiang zu schaffen. Es war geplant, auf dieser Strecke in Automobilen größere Truppenmengen nach Sinkiang zu werfen. Der Marschall hatte zu diesem Zweck von Lantschou aus eine Automobilstraße anlegen lassen, die über Ping-fan, Liang-tschou, Kan-tschou bis An-hsi führte und noch weiter in Richtung Schin-schin-schja ausgebaut werden sollte. Die Bewohner sämtlicher an dieser Strecke liegender Ortschaften waren zwangsweise zum Wegebau herangezogen worden; Oberleitung und Bewachung lagen in den Händen der bewaffneten Macht. Militärpatrouillen kontrollieren bei Tag und Nacht die Übergänge, liegen zum Teil im Hinterhalt, ähnlich unseren Autofallen, und fahnden nach Fahrzeugen, die es wagen, die Autostraße widerrechtlich zu benutzen.
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