Gleichzeitig bringe ich nachstehende Depesche an die Deutsche Gesandtschaft in Peking zur Absendung:
»Weiterreise Kansu möglich, wenn das Zentralgouvernement der Chinesischen Republik amtliche Versicherung erhält, dass meine Expedition wissenschaftliche und keine anderen Ziele verfolgt. Eure Exzellenz bitte ich ehrerbietigst und herzlich, mir und der Wissenschaft diese Hilfe zu gewahren. Filchner, Katholische Mission.«
Am 23. Mai teilt mir der Geheimpolizist Joseph mit, dass die Erlaubnis zur Weiterreise nicht mehr lange ausbleiben werde. Am 26. Mai konferiert Cavalieri stundenlang mit Fan Dao-tai. Drei Tage nachher bestürmt er Fan Dao-tai und Joseph wiederum eindringlich, um meiner Sache zu dienen. Dann stellt er an mich die Schicksalsfrage: »Was gedenken Sie zu tun, wenn man Sie über Tschugutschak abschieben will?« Ich erwidere: »Ich würde mit der sibirischen Bahn nach Peking reisen und von dort über Schanghai nach Lantschou fahren.« Mit dieser Antwort wollte ich dem Generalgouverneur die Sinne schärfen. Ich wusste genau, dass es ihm gegen den Strich ging, wenn ich von hier auf dem nächsten Wege nach Lantschou reiste, weil er befürchtete, ich würde von dort nach Peking weiterfahren. Er will mir nämlich noch immer nicht glauben, dass ich von Lantschou aus die Route westwärts nehmen will, nach Kaschgar oder Kaschmir.
Am 30. Mai scheint es im Palast des Generalgouverneurs sehr stürmisch hergegangen zu sein. Die höheren Beamten sind über die Willkür des Machthabers empört und billigen seine Maßnahmen nicht. Selbst dem Dao-tai, der einen Pass nach dem Osten verlangt, wird sein Gesuch vom Generalgouverneur abgeschlagen. Überall herrscht Auflehnung gegen seine Tyrannei. Man munkelt von seinem baldigen Sturz. Auch im Volk gärt es.
Joseph sucht meinen Unmut zu dämpfen. Er versichert, dass nicht das Geringste gegen mich vorliege. »Im Gegenteil«, sagte er, »man schätzt Sie und hält Sie für einen ehrlichen Mann, der mit den Chinesen sehr gut fertig wird. Der Dao-tai und alle Minister stehen auf Ihrer Seite.«
Josephs wohlgemeinten Rat, sofort funktelegraphisch in Kaschgar beim englischen Konsul anzufragen, ob er mich unter seinen Schutz nehmen wolle, lehnte ich ab, mit dem Hinweis, dass ein deutscher Konsul in Tientsin existiere. Der Trost war schwach, aber schließlich hätte ich die Heimatbehörde doch nicht schneiden können!
Es wird endlich vereinbart, dass Pater Veldman und der hilfreiche Cavalieri anderentags mit dem Dao-tai konferieren. Man weiß genau, dass ich politisch durchaus unverdächtig bin. Der Dao-tai will meinetwegen beim Generalgouverneur sogar schweres Geschütz auffahren. Mitten in all den unerquicklichen Verhandlungen erreicht mich die erfreuliche Nachricht, dass von der Filmfabrik Wolfen am 8. Mai weitere 10 000 Meter Film nach Tientsin auf den Weg gebracht wurden.
31. Mai. Zweistündige Konferenz beim Dao-tai. Er übt scharfe Kritik am Generalgouverneur und deutet bekräftigend mit dem Finger nach der Stirn. Schließlich schlägt er vor, mit ihm gemeinsam sofort zum Generalgouverneur zu gehen und diesem noch einmal die Versicherung zu geben, dass Peking für mich überhaupt nicht in Betracht komme, sondern nur ein Westmarsch von Lantschou aus. Der Dao-tai ist empört und sagt wörtlich: »Es ist ungeheuerlich, Sie, den Gelehrten, nicht ziehen lassen zu wollen!«
Um ein Uhr Audienz beim Gouverneur in Gegenwart des Dao-tai. Einstündige Unterredung. Der Gouverneur operiert mit seiner Nachricht aus Kansu. Dort seien schwere Unruhen ausgebrochen. Er wolle mich nicht in Gefahr bringen! Pater Veldman behauptet das Gegenteil und versichert, er habe Berichte von seinen Missionsbrüdern aus Kansu, dass es dort ganz ruhig sei. Außerdem fügt er hinzu, wolle ich ja überhaupt nicht nach Lantschou, sondern nach Sining-fu. Der Generalgouverneur bittet mich nach langen, fruchtlosen Debatten, mich noch etwas zu gedulden. Das Eis scheint langsam zu brechen! Geduld ist aller Schmerzen Arznei!
1. Juni. Telegraphische Anfrage in Kuldscha und Taschkent nach dem Verbleib des mir von Potsdam nachgesandten Instruments.
Soeben erscheinen zwei chinesische Kriminalbeamte, um vier Photographien von mir für den chinesischen Pass zu erbitten. Gute Auspizien. Gleichzeitig erbittet der Direktor der Munitionsfabrik, der Bruder des Gewaltigen, meinen Besuch. Ich lehne ab, um beim Generalgouverneur kein neues Misstrauen zu erregen. Der Direktor der Munitionsfabrik antwortet: »Ich bürge bei meinem Bruder für Sie.« Seine kleine kranke Tochter kann in ihrer Dankbarkeit gegen mich nicht genug tun. Dudewin feiert den 30. Geburtstag seines ältesten Sohnes. Da er ihn gern als Konsul nach der Sowjetunion schicken möchte, ist das Generalkonsulat der Sowjetunion zu einer Feier eingeladen.
2. Juni. Vormittags starke Leibschmerzen: die ersten Anzeichen eines beginnenden Gallensteinleidens. Aus Manaß treffen von Pater Hilbrenner 2000 Lan ein. Endlich habe ich wieder Geld. Ohne die Steyler Mission hätte ich schon in Tihwa die Zelte abbrechen müssen. Ich bitte um Hilbrenners Besuch in Tihwa. Vielleicht gelingt es seiner Verhandlungskunst, den Generalgouverneur zu bestimmen, mir die Pässe für die Weiterreise auszuhändigen. Dieser treue Mann kommt sofort. Am ersten Tag legt er 120 Kilometer zu Pferde zurück. Bald nach seiner Ankunft, am 5. Juni, wird er mit mir vom Dao-tai empfangen. Da höre ich zu meinem nicht geringen Erstaunen, dass man mich anklagt:
1. die Grenze Chinas ohne chinesischen Reisepass überschritten zu haben;
2. in China Messungen ohne Erlaubnis ausgeführt zu haben, da weder mein deutscher Pass noch das Empfehlungsschreiben des Generalkonsuls von Tientsin solche Arbeiten erwähnt,
3. außerdem fehle meinem chinesischen Reisepass das Visum des Chinesischen Auswärtigen Amtes in Peking,
4. sei weder die chinesische Grenzstelle in Chorgos noch Tihwa von meiner Ankunft benachrichtigt worden.
Ich antworte: »Aufgrund dieser Vorgänge hätte mich ja der Generalgouverneur glatt einsperren können!«
Der Dao-tai nickt vielsagend.
Dann fahre ich fort: »Es ist also ein besonders großes Entgegenkommen des Generalgouverneurs, wenn er mich trotz dieser Verstöße, die man mir zur Last legt, so wohlwollend behandelt und aufgenommen hat!«
Der Dao-tai stimmt zu. Ich schließe: »Unter diesen Verhältnissen bin ich dem Gouverneur für seine mir bisher erwiesene Güte doppelt dankbar.«
Der Dao-tai meint dann, ich möge mich nur noch einige Tage gedulden; er werde noch einmal persönlich für mich eintreten und hoffe, mir bald das Jawort zu bringen.
Einige Stunden später schickt mir der Dao-tai seine Photographie mit einer freundlichen Widmung. Ich danke und beteuere außerdem, dass ich für alles, was mir zustoßen könne, auf jeden Schadenersatz von chinesischer Seite verzichte und dass ich selbst jede Verantwortung trage.
Schließlich benachrichtige ich den Dao-tai, dass ich ihn, den Generalgouverneur und alle seine Minister demnächst bei mir zu einem Festessen zu begrüßen hoffe. Das ist der einzige Weg, um rasch zum Ziel zu kommen.
Am Abend des 5. Juni erwachte ich mit wahnsinnigen Leibschmerzen. Ich konnte nicht mehr liegen, so hatte ich zu leiden. Beick und die Missionare kamen augenblicklich. Man legte mir heiße Kompressen auf den Leib. Bald stellte sich schweres Erbrechen ein. Wie ich später erfahren sollte, war das der erste Gallensteinanfall!
Am 6. Juni kommt Joseph mit der Freudenbotschaft, dass der Pass in ein paar Tagen da sein werde! – Vielleicht, vielleicht auch nicht! Ärztekonferenz wegen meines Leidens. Die Diagnose schwankt zwischen Gallensteinkolik und Leberkrankheit.
Vormittags mache ich trotz meiner Anfälligkeit mit Pater Hilbrenner Besuche bei folgenden Ministern: Ji-tschin-tschang, dem Chef des Geheimen Kabinetts des Generalgouverneurs, Siü-tschin- tschang, dem Finanzminister, Liu-tschin-tschang, dem Kultusminister, Jen-tschin-tschang, dem Ackerbauminister, und Wu-tschin-tschang, dem Telegraphendirektor.
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