In Tihwa haben die Engländer übrigens eine sehr starke Sendestation mit drei hohen Stahlmasten und einem geräumigen Senderaum erbaut. Dieses Institut steht mit der Schwesterstation in Kaschgar in ständiger Verbindung und kann unter anderem auch täglich von der indischen Festung Peschauer Zeitsignale in Empfang nehmen. Aber auch mit Peking ist der Verkehr recht lebhaft.
Mein neuer Freund Fan brachte mich zum Generalgouverneur, einem stattlichen Chinesen mit sehr großem, klugem und breitem Gesicht, weißem Haar, Schnurrbart und Spitzbart. Seine durchdringenden Augen verrieten jedoch nichts von seiner Energie. Seine Bewegungen waren gemessen und mit Würde gepaart. Er sprach langsam, das Wichtige deutlich hervorhebend. Er konnte aber auch sehr temperamentvoll werden, ein glänzender Redner und weltgewandter Wirt. Wir saßen zwei Stunden beieinander, sprachen über mein Reisegepäck, meine Messpläne, den Bolschewismus, über Fabriken und die Arbeiterfrage, den deutschen Reichspräsidenten, die Judenfrage, die Christenfrage, die Mohammedaner. Die Bolschewiken verglich er mit einem widerspenstigen, sich bäumenden Pferd, dessen Kraftüberschuss durch Trense und Kandare gebändigt werden müsse. Religion und Politik behandelte der Gouverneur in einem Atem. Es erschien ihm ganz unverständlich, dass die Christen – Katholiken und Protestanten – wegen religiöser Meinungsverschiedenheiten einander befehden.
Meine nächsten Besuche gelten dem italienischen Postmeister Cavalieri und Herrn Feldmann, dem Direktor der Russisch-Asiatischen Bank. Direktor Feldmann hatte Besuch aus Kaschgar. Es handelte sich um die Familie Roerich, Vater, Mutter und Sohn. Sie wollten ursprünglich nach Kansu weiterreisen. Der Generalgouverneur verweigerte ihnen jedoch den Pass. Sie sollten nun nach Tschugutschak in der Sowjetunion abgeschoben werden. Roerich, ein bedeutender Bildhauer, war russischer Staatsangehöriger, wanderte mit seiner Familie dann aber nach Amerika aus und lebte zuletzt in Paris. Er erzählte uns, dass ihm die Vereinigten Staaten eine Million Dollar zu einer Kunstreise in Asien angewiesen hätten.
Tags darauf besuche ich den Generalkonsul der Sowjetunion. Er steht im besten Mannesalter und kommt aus alter Schule. Dieser allgemein beliebte und angesehene Mann erbot sich, meine astronomisch-magnetischen Messungen mit Kurier über Moskau nach dem Zentralobservatorium Leningrad zu senden. Leider sind auf diesem Weg die Messungen von zwölf Stationen verlorengegangen. Es darf im Interesse der Wissenschaft erwartet werden, dass alles geschieht, um das Fehlende wieder herbeizuschaffen.
Auch den beiden ansässigen Ärzten, Pedaschenko und Dr. Eichtmeyer, die als russische Emigranten hier leben, stellte ich mich vor. Sie dürfen als die »Elite« der Emigranten bezeichnet werden. Die übrigen Herrschaften dieser Gattung, mit wenigen Ausnahmen, kommen als Umgang nicht in Betracht. Der Chinese begegnet ihnen mit Verachtung. Er sieht in ihnen arbeitsscheue und lästige Bittsteller, die er sich gern vom Halse hält und denen er alles zu bieten wagt. Damit ist aber zugleich seine einstige Achtung vor den Vertretern der westeuropäischen Kultur gesunken. In seiner Verallgemeinerung macht er nun überhaupt keinen Unterschied mehr zwischen »Europäern« und »Emigranten«. Alle Weißen wirft er in einen Topf. Natürlich leidet jeder Fremde unter dieser Einstellung, in erster Linie aber der europäische Forscher, auf den die Missachtung übertragen wird.
Der Generalgouverneur lässt mich um Darlegung meines Expeditionsprogramms bitten, das ich ihm sogleich übersende.
Die Luft am Hof des gestrengen Herrn wird sehr dick. Ein verdächtiges Mitglied der Emigrantenschar, der Lehrer des Gouverneurssohnes, intrigiert heimlich gegen mich. Sein Hass ist nicht persönlich. Er steht bei der katholischen Mission in üblem Ruf. Da ich nun von dieser Seite alle nur denkbare Förderung erfahre, sucht er mich zu verdächtigen und meine Kreise zu stören. Seine Einflüsterungen fallen auf guten Boden; denn bald erfahre ich, dass man mich als »lästigen Ausländer« nach Sowjetrussland abschieben will. Diesen Schlag pariere ich sofort und bleibe schließlich Sieger.
Am 13. Mai bin ich Gast im Palast des Generalgouverneurs. Der Empfang ist formvollendet. Der Posten tritt ins Gewehr. Man gibt mir den Ehrenplatz an der Tafel. Das Diner ist ausgezeichnet. Der Schampus fließt in Strömen. Auch hier im Herzen Asiens versteht man zu leben. Trotz alles äußeren Gepränges bleibt die Haltung des Gastgebers mir gegenüber kühl und gemessen. Das macht keinen tieferen Eindruck auf mich. Ich kenne die Söhne des Reiches der Mitte zu genau. Im Verkehr mit ihnen muss man die Zeit arbeiten lassen. Das asiatische »Schnell, aber langsam!« habe ich nun zur Genüge erprobt. Je mehr Misstrauen mir entgegenweht, umso liebenswürdiger, höflicher und – harmloser gebe ich mich.
Am Tag nach dem Fest führe ich in der Nähe der Telefunkenstation meine Messungen aus. Ein kleines Intermezzo: Die Pferde eines offenen Personenwagens scheuen. Der Wagen kippt um. Ein älterer Chinese und ein achtjähriges Mädchen kommen zu Fall. Die Kleine verwundet sich bei dem Sturz am Fuß. Mit Pater Veldman zusammen bringen wir sie zur katholischen Mission, und dort verbinde ich sie. Nun stellt sich heraus, dass die Kleine eine Nichte des Generalgouverneurs ist. Ihr Vater, der bei dem Unfall heil davonkam, ist dessen Bruder und der Leiter der fünf Kilometer entfernten Munitionsfabrik, die vor langen Jahren von Deutschen eingerichtet worden ist. Das Mädchen besuchte mich nun fast täglich. Dieser Zwischenfall brachte mir insofern einen wesentlichen Vorteil, als sich die ganze Familie der Kleinen in ihrer Dankbarkeit für meine Hilfsbereitschaft nicht genug tun konnte. Durch diese zufälligen Beziehungen gestaltete sich mein Verhältnis zum Generalgouverneur allmählich angenehmer.
Am Nachmittag besah ich mir einen chinesischen Tempel, der mehrere große, reich bemalte Höfe hatte. In dem einen der Höfe waren zwei Räume eingebaut mit vielen Figuren, Symbolen der Höllenstrafen. Die »Plastiken« waren aus bemaltem Lehm geformt. Auch leere und besetzte Särge standen in großer Zahl umher.
Am folgenden Tag besuchte ich den Engländer Mr. Hunter, den Leiter der China-Inland-Mission. Schon vor 22 Jahren hatte ich ihn in Sining-fu im Hause meines opferfreudigen englischen Freundes, des Herrn Ridley, kennengelernt. Hunter ist ein ausgezeichneter Kenner des Islams. Er warnte mich, auf meiner Weiterreise Kansu zu berühren.
In Tihwa ist neben anderen auch ein Deutscher ansässig. Er heißt Zug und betreibt eine Darmschlemmerei. Bereits seit zehn Jahren lebt er in China und ist ein hervorragender Vertreter des Deutschtums in Asien. Neben seinem Handwerk versteht er die Chinesen richtig und mit Takt zu behandeln, was leider nicht von allen Landsleuten behauptet werden kann, die einem auf fremder Erde begegnen.
Auch in Asien wohnt das Glück. So habe ich heute meine Taschenuhr, die ich gestern verlor, wiedergefunden!
Die nächsten Tage sind ausschließlich magnetischen Messungen gewidmet. Der Geheimpolizist Joseph bringt mir eine unerfreuliche Neuigkeit. Der Generalgouverneur hat mein Gesuch um Weiterreise kategorisch abgelehnt. Am Nachmittag bestätigt sich die Hiobspost. Fan Dao-tai erscheint persönlich. Er begründet die Ablehnung des Gouverneurs mit dem unsicheren Zustand im Osten und fügt liebenswürdig hinzu, man wolle mich vor allen Dingen vor Gefahren schützen. In dieser kritischen Stunde erwächst mir im italienischen Postmeister Cavalieri ein warmherziger Fürsprecher, der persönlich beim Generalgouverneur für mich wirkt.
Am 22. Mai laufen tatsächlich bedenkliche Nachrichten von Raubüberfällen auf der Strecke Dschin-huo–Sairam-nor–Tihwa ein. Eine von 18 Moslems geführte Warenkarawane ist überfallen worden. Die Räuberbande, etwa 25 Kirgisen, war ausgezeichnet bewaffnet, begnügte sich aber mit dem Diebstahl sämtlicher Pferde. Die Waren blieben unberührt. Cavalieri setzt seine diplomatischen Bemühungen in meinem Interesse fort. Er entwirft zwei Briefe, einen an den Generalgouverneur, einen zweiten an Fan Dao-tai.
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