Wir können heute (und längst) beweisen, dass Humboldt mehrfach in Lebensgefahr schwebte, ja, dass er selbst einmal einem Brief anvertraute, er glaube, Bonpland und er würden wahrscheinlich nicht als Lebende zurückkehren. Während der Alexander-v.-Humboldt-Gedächtnisexpedition im Jahre 1958 haben sich Volkmar Vareschi und Karl Mägdefrau oft über seine unwahrscheinliche Leistungsfähigkeit gewundert, die beim Vergleich mit den heutigen Bedingungen immer wieder deutlich wurde. Er kam gesund aus den Tropen zurück. Fast war es ein Wunder. Er hatte am Casiquiare die dichtesten Moskitoschwärme überlebt; Karl Mägdefrau stellte fest: »Der Mensch ist hier ununterbrochen, Tag und Nacht, den Angriffen der verschiedensten Stechmücken, Ameisen, Wespen usw. ausgesetzt. Humboldts Schilderungen entsprechen auch in diesem Punkte vollauf den Tatsachen. Einer der Expeditionsteilnehmer zählte einmal auf dem linken Handrücken 170, auf dem rechten 102 Moskitostiche!« Deshalb und infolge des Sogs der Hauptstadt Caracas sind diese Gegenden heute menschenleer (Caracas 1927: 127 000 Einwohner; 1958: 1 Million).
Überhaupt stellt sich nach solchen Hinweisen die Frage nach dem heutigen Zustand der von Humboldt bereisten Landschaften. Hierüber gibt das von Ortwin Fink und mir bearbeitete Buch Loren Alexander McIntyres (Hamburg 1982) Auskunft. Einige Einblendungen wird der Leser im Text und in den Anmerkungen finden.
In meinem reisegeschichtlichen Denken sind die Stufen der Vorbereitung, Ausführung und Auswertung notwendige Schritte, die aus Gründen der Klarheit der Darstellung und als sukzessive Erkenntnisstufen im rekonstruierenden Bericht getrennt werden sollten. Dem Erkenntnisgewinn des Lesers zuliebe musste in wenigen Fällen bewusst davon abgewichen werden: so z. B. als Humboldt das überraschende Urteil über die Schönheit der (subtropischen!) Landschaft Teneriffas natürlich nicht während seines dortigen Aufenthalts, sondern erst später aus dem Vergleich mit den Tropen gewinnen konnte (siehe Seite 120). Hier brächte die strikte Trennung der unmittelbar vor Ort erzielten Einsicht von dem erst in der Auswertung sichtbar werdenden Ergebnis dem Leser nichts ein, weil ihm nämlich ein wichtiges Bekenntnis Humboldts an der richtigen Stelle praktisch vorenthalten würde. Ähnlich zu bewerten sind einige Einschaltungen heutiger Ergebnisse auch in Anmerkungen: etwa Schilderungen des Verhaltens der Guácharo-Vögel, der erneute Nachweis einer von Humboldt entdeckten Wild-Tomate oder Bemerkungen zur Chimborazo-Besteigung.
Als früher Kenner der (für die Geschichte der Geographie wichtigen) Reisen, hatte Humboldt beobachtet, dass Expeditionen mit vielen Teilnehmern an Bord eines Schiffes oder als Unternehmungen auf dem Festland fast immer unter dem Streit der Teilnehmer zu leiden hatten. Er beschäftigte sich mit der außerordentlich schlecht organisierten Forschungsreise der Französischen Akademie 1735-1743 und mit der dänischen Expedition 1761-1767, die unter der völligen Unfähigkeit Ihre Leiters zu leiden hatte. Der schließlich einzig Überlebende, Carsten Niebuhr, hatte die Forschungsergebnisse der Expedition mit seinem Reisebericht gerettet.
Auch James Cook, der größte maritime Entdecker überhaupt, kam mit Gelehrten wie Sir Joseph Banks (und, auf seiner zweiten Weltumsegelung 1772-1775), nicht immer gut zurecht. Besonders schwierig war das Verhältnis zu Johann Reinhold Forster, dessen Sohn Georg sich aus diesem Streit diplomatisch heraushielt und Cook besonders achtete. Humboldt zog daraus verständliche Konsequenzen:
Er wollte die Reise selber gründlich und speziell vorbereiten und wollte seine Forschungsergebnisse mit anatomischen Beobachtungen und mit umfangreichen Ausführungen der Elektrophysiologie noch bereichern. Dass er als Aufklärer auch daran dachte, sich mit diesen Leistungen ein bleibendes Andenken zu schaffen, bezeugt allein schon die große geistige Anstrengung, die er nie scheute. Es ist besonders hervorzuheben, dass Ingo Schwarz und Klaus Wenig im Kommentar ihrer Ausgabe des Briefwechsels Humboldts mit Emil du Bois-Reymond (Berlin 1997) diese besondere Leistung wissenschaftsgeschichtlich nachgewiesen haben. Selbstverständlich haben diese Forschungen mit der Geographie nicht das Geringste zu tun. Sie müssen aber, zusammen mit den wichtigen, tief in die Analyse von Humboldts »Versuche über die gereizte Muskel und Nervenfaser« (2 Bde., Posen 1797) eindringenden Recherchen Brigitte Hoppes auch als Aufgaben der Vorbereitung der Forschungsreise Humboldts verstanden werden. Dies wird bis heute allerdings zu wenig zur Kenntnis genommen, obwohl er alle nötigen Utensilien zu den entsprechenden Versuchen vor Ort mitgenommen hatte. Alles hatte sich bereits angedeutet, als die beiden Brüder Keutsch von der damals noch dänischen Jungferninsel Sankt Thomas bereits als Mitarbeiter in das eben genannte zweibändige Werk hineinspielten als zwei Dänen aus Westindien.
Ich hatte schon 1959 darauf hingewiesen, dass große Expeditionen immer mehrere, thematisch oft weit voneinander getrennte Aufträge zu erfüllen hatten. Ganz in diesem Sinne suchte Humboldt lange nach einem geeigneten Mitarbeiter. Er dachte zunächst an Nicolaus Diederich Boethlingk, an die Brüder Keutsch oder an Joseph van der Schot. Seine Wahl fiel schließlich auf Aimé Bonpland. Er war Mediziner und stand vor einer wissenschaftlichen Karriere als Botaniker. Sie ergänzten sich hervorragend und blieben Freunde bis zuletzt.
Körperliches Training wie spätere Forschungsreisende (Fridtjof Nansen, Alfred Wegener, Heinrich Harrer) hat Humboldt nicht gekannt. Kam es darauf an, so holte er die notwendige Kraft ohne Weiteres aus sich heraus und wurde ähnlich wie später Sven Hedin mit allen Strapazen fertig; er hätte ebenso wie der große Schwede von sich sagen können, er habe sich nie überanstrengt. Noch 1829 ist dem 60-jährigen Humboldt in Russland und Sibirien körperliche Gewandtheit bescheinigt worden (siehe: Alexander von Humboldts Reise durchs Baltikum, nach Rußland und Sibirien 1829, 6. Aufl. 2009, S. 162). Seine erstaunliche Tropenfestigkeit erlaubte ihm volle Messprogramme, Pflanzenbestimmungen, Zeichnungen und Tagebucheintragungen in oft zeitlich dichter Folge. Andererseits bin ich mit vielen einig, dass er eine Glückshaut trug: Eine Chimborazo-Besteigung im Alltagsanzug mit Straßenstiefeln, ohne kundigen Führer und ohne jede Bergausrüstung ist nur einmal einem Humboldt gelungen, der, von einem kaum in Worte zu kleidenden geistigen Schwung beflügelt, nur wissenschaftliche Forschung im Sinne seines Leitmotivs betreiben wollte. Es ging ihm zunächst nur um Messungen in großer Höhe – und doch erlag auch er der »geheimen Ziehkraft« des 6310 m hohen Tropenbergs. Als der Nebel zerriss, erblickte er den Dom des Gipfels. Er sagte zwar nicht mit Johann Joachim Winckelmann »edle Einfalt und stille Größe«, sondern stellte in Übereinstimmung mit ihm fest: »Es war ein ernster und großartiger Anblick.« Und: »Am 25. Junius erschien uns in Riobamba Nuevo der Chimborazo in seiner ganzen Pracht, ich möchte sagen in der stillen Größe und Hoheit, die der Naturcharakter der tropischen Landschaft ist.«
Als erster Geograph hat Humboldt das Problem der Schwarz- und Weißwasserflüsse erkannt, wie wir noch im Text sehen werden. Der gebildete deutsche Facharzt und bekannte Sportler Dr. Max Stern wurde 1938 von Hitler zur Emigration gezwungen. Er hat von 1939 bis 1945 als Land- und Wanderarzt das Forschungsgebiet Humboldts in Venezuela intensiv bereist und ab 1942 27-mal den Casiquiare befahren. 1943 bis 1945 begleitete er die Ingenieur-Mission des Colonels der US-Armee, H. G. Gerdes, und konnte dabei weitere Einsichten gewinnen.
Vor den grundlegenden Beobachtungen internationaler Gelehrter (unter ihnen Harald Sioli) hat er bei der Lösung des Problems der Schwarz- und Weißwasserflüsse, der – wie er richtig meinte – mit Pflanzensaft eingetieften Felszeichnungen und der Casiquiare-Entstehung sehr Erhebliches geleistet. Dr. Stern hat mich vor seinem Tod um Wahrung seiner Interessen gebeten. Daher ist die erstmalige Publikation seiner vor Ort gezeichneten Landschaftsskizzen eine Verpflichtung, der sich Verlag und Autor nicht entziehen wollen. Gerade der skizzenartige Charakter dieser schwierig zu reproduzierenden Bilder gewährt einen wahren Einblick in tropische Landschaft.
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