Erstmals lenkte Alexander sein Leben diplomatisch zu einem weiteren Ziel hin, als er die Mutter und Kunth für ein Bergbaustudium in Freiberg gewinnen konnte und damit endlich das ihm auferlegte Allerweltsstudium der Kameralistik (Volkswirtschaft) unterbrach, dem er andererseits doch sehr vieles verdankte.
Als »Bergmann« erlebte er eine stürmische Karriere und bald die Schöpfung eines zweiten Forschungsprogramms, das ein Strukturgesetz der Erde beweisen sollte.
Ein drittes Forschungsziel galt dem Entwurf geographischer und geologischer Profile; die Letzteren sollten mit Symbolen und Buchstaben pasigraphisch (im Sinne einer allgemein verständlichen Schrift-Zeichensprache) erläutert werden. Die bis dahin fast nur zweidimensionale Geographie und Kartographie gewann seit Humboldt mit nachhaltigem Erfolg die dritte Dimension der Höhe und ermöglichte auch kartographisch die Wiedergabe des Reliefs der Erdoberfläche.
Dies alles vertiefte Humboldt, als er 1793 in geistiger Auseinandersetzung mit Kants Physischer Geographie eine Methodologie schuf.
Es genügt hier der Hinweis auf seinen erstmaligen Versuch der Bezeichnung einer Leitwissenschaft. Er nannte sie 1793 merkwürdigerweise »geognosia«; das ist der ältere, zunächst noch beherrschende Begriff, den J. A. de Luc (1778) und H. B. de Saussure (1779), Humboldts wesentlichstes Vorbild in der Hochgebirgsforschung, schließlich mit dem Terminus Geologie ersetzen sollten. Das aber – in letzter Konsequenz Erdgeschichte – hatte Humboldt nicht gemeint. Was er wollte, ergibt sich erst, wenn wir sehen, dass er »geognosia« in Klammern mit drei gleichbedeutenden Begriffen erläuterte: »(Erdkunde, Theorie der Erde, physikalische Geographie)«. Damit wird klar, dass keinesfalls »geognosia« in der üblichen Bedeutung gemeint war, und man wird sich fragen müssen, warum der junge Humboldt überhaupt diesen doch bereits vergebenen Begriff beanspruchte. Wie Herder ersehnte Humboldt »eine philosophische Physische Geographie« (Herder), d. h. eine Geographie höherer Art. Deshalb wurde der Ausdruck Geographie, der zu erwarten war, regelrecht desavouiert, weil er ihn mit Recht an die damals zum Schlafmittel degenerierte Registratur der politischen Geographie erinnerte. In seinem begrifflichen Denken erwies sich Humboldt als überempfindlich; daher auch der Versuch, jeden Begriff seiner Methodologie mehrfach zu erläutern, ein Verfahren, das der Geographiegeschichte andererseits den Weg zur Lösung des Problems wies.
1796 ersetzte Humboldt dann den ohnehin bereits festliegenden und vergebenen Begriff »geognosia« durch »physique du monde«, einen Ausdruck, den er oft und ausnahmslos mit »Physik der Erde« übersetzt hat. Darunter verstand er jedoch keineswegs die frühe »Kosmos«-Idee, in der sich, wie in diesem späteren Werk selbst, »Himmel und Erde«, und zwar in dieser Reihenfolge, vereinigten.
Viele und auch ich selbst haben dennoch zunächst in »physique du monde« einen frühen Hinweis auf den »Kosmos« gesehen, obgleich dies nur teilweise zutrifft.
»Physique du monde« war zunächst nichts anderes als der neue Leitbegriff, der das eindeutig vergebene Leitwort »geognosia« ersetzte. Das zeigte sich klar, als Humboldt 1814 sein Ziel als »Physik der Erde, Theorie der Erde oder Physikalische Geographie« erläuterte, in einer Passage, die den Charakter seiner Forschungsreise offen klären sollte; eben diesen Text hat Hermann Hauff unverständlicherweise gelöscht; er steht in diesem Buch als Motto vor der Rekonstruktion von Humboldts Reise. Da »Physikalische Geographie« (eigentlich Naturgeographie) bereits im 18. Jahrhundert die wichtigste Wachstumsspitze der Geographie (Saussure, Kant, Herder, Johann Reinhold Forster, Saussure) bezeichnete, hatte der Begriff die größeren Aussichten, von Humboldt auf die Dauer benutzt zu werden. Dennoch hat er oft von »Physik der Erde« gesprochen; in all diesen Fällen können wir allerdings eindeutig und mühelos »Physik der Erde« durch den Terminus »Physikalische Geographie« ersetzen, und schließlich hat Humboldt selbst jeden Zweifel aufgehoben, weil er oft darauf hingewiesen hat, die eigentliche Sphäre seiner Kenntnis sei auf »Physikalische Geographie und Geognosie« beschränkt. Dazu hat er einen wesentlichen Teil der Geognosie zur Physikalischen Geographie gerechnet und keineswegs klare Grenzen gezogen.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Das dreistufige, im Sinne Kants raumwissenschaftliche, d. h. geographische Forschungsprogramm war der Nährboden einer im Sinne der Zeit »philosophischphysischen [oder physikalischen] Geographie« (Herder), die den Menschen einschloss.
Dreistufiges Programm als Nährboden, Methodologie von 1793 und sechsjährige Vorbereitung der amerikanischen Forschungsreise (seit 1793/94) offenbaren einen inneren Zusammenhang, der sich begrifflich bereits seit 1793 als Einheit verstand und 1796 nur neu, und zweifellos besser, bezeichnet wurde .
Dass Humboldt ein großer Geograph war, haben schließlich auch sämtliche bedeutenden Geographen, von Carl Ritter über Oskar Peschel, Ferdinand v. Richthofen, Friedrich Ratzel, Elisée Reclus, Paul Vidal de la Blache, Sir Halford Mackinder, Albrecht Penck, Alfred Hettner, Otto Schlüter bis zu Hermann Lautensach und Carl Troll, bestätigt. Seine vergleichbare Größe als Mediziner, Chemiker, Mathematiker und Astronom hat sich dagegen keineswegs erweisen lassen. Das muss endlich zu denken geben.
Der junge Humboldt hat vielfältig publiziert, doch beweisen seine zahlreichen gedruckten Beiträge bis 1799 seine Größe allein keineswegs. Gerade das nicht Publizierte, d. h. seine Forschungsprogramme, und das im Druck nur Angedeutete, in Briefen kurz Geschilderte, war das »Triebrad« (Goethe). Es trieb ihn förmlich aus Europa hinaus auf die Bahn des Forschungsreisenden. Es war allein schon deshalb im Vergleich zu allem bis dahin meist schnell Publizierten bedeutender, eben weil an seine Veröffentlichung überhaupt noch nicht gedacht werden konnte. Erst aus ihm und aus den mit ihm zusammenhängenden Denkbewegungen ergab sich, dass Humboldt schon im Augenblick seines Aufbruchs nach Amerika über die bedeutendste geographische Konzeption seiner Zeit verfügte. Nach der Reise wurde dann deutlich, worauf seine Klassizität beruhte:
Mehr als alle seine Vorgänger war er Geograph (und Kartograph) und Forschungsreisender. Er hatte damit ein Forschungsvorbild (Paradigma) geschaffen, dem keiner widersprochen hat, das aber nur wenige (Ferdinand v. Richthofen, Friedrich Ratzel, Carl Troll, Hermann Lautensach, Albert Kolb und Herbert Wilhelmy in Deutschland) erreicht haben.
KURZE HINWEISE ZUR FORSCHUNGSREISE
A. V. HUMBOLDTS
Das nach und nach zwischen 1788 und 1797 entfaltete dreistufige Forschungsprogramm und die mit ihm verbundenen Gedanken drängten Humboldt nach mehrfachem Reisen förmlich aus Mitteleuropa hinaus, wie schon gesagt wurde. Die amerikanische Reise war auch insofern ein notwendiges Forschungsinstrument, dessen Exaktheit Humboldt in sechsjähriger Vorbereitung geformt hatte . Ohne sie konnte sein physikalisch-geographisches Denken nicht fortschreiten. Dabei hatte er die schwingenden Schalen der Waage seines Lebens gleichmäßig gefüllt: die eine Schale mit den schwerwiegenden Resultaten seines physikalisch-geographischen Forschens, die andere mit dem menschenrechtlich-humanitären Gedankengut, wobei das eine ohne das andere nicht denkbar war. Wissenschaft war ihm stets auch ein Mittel zur Behauptung oder Durchsetzung der Menschlichkeit. Die hier vorgelegte Rekonstruktion beweist diese Verbindung immer wieder.
Beleuchten wir weitere Charakterzüge dieser Reise:
Alexander Solschenizyn hat auf die Erfahrung hingewiesen, die jeder, der einmal Gefangenschaft erlebte, leicht bestätigen kann: So gut wie nie seien in der Literatur die Gefäße der Notdurft erwähnt worden. So sei etwa der spätere Graf v. Monte Christo im Verlies des Château d’If eingekerkert worden, doch wir erführen nur, dass ihm Essen gebracht worden sei. Der zeitgenössische literarische Geschmack verbat sich eben »Peinliches«, das andererseits eine solche Kerkerhaft noch wahrer und deutlicher werden lassen musste. Ebenso hat die Reiseliteratur damals in ihren führenden Werken Entbehrungen, von geringen Ausnahmen und kurzen Einblicken abgesehen, nur angedeutet. Man transpirierte höchstens, man schwitzte kaum, und so könnte der Leser meinen, Humboldts Reise sei gefahrlos wie das Unternehmen eines heutigen Globetrotters oder Touristen verlaufen. Sehr oft werden nicht einmal die Überanstrengungen des hart arbeitenden Humboldt im Tropischen Regenwald deutlich. In seinem Tagebuch hat er die üblen Ausdünstungen unterdrückter Arbeiter in mexikanischen Manufakturen immerhin erwähnt, die beiden Gefährdungen seines Reisebegleiters Aimé Bonpland festgestellt, eigene Erschöpfung und Bedrohung aber nahezu übergangen.
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