So ergeben sich immer neue Probleme, die nun endlich auch von einer größeren Zahl von Lesern gesehen werden sollten.
Dies alles hat noch zu Humboldts Lebzeiten den Verleger Cotta zum Handeln veranlasst. Er beauftragte Hermann Hauff (1800–1865), den Bruder des Dichters Wilhelm Hauff, mit einer deutschen »Bearbeitung«: Alexander von Humboldt’s Reise in die Aequinoctial-Gegenden des neuen Continents. In deutscher Bearbeitung von Hermann Hauff. Nach der Anordnung und unter Mitwirkung des Verfassers. Einzige von A. v. Humboldt anerkannte Ausgabe in deutscher Sprache . 4 Bde. J. F. Cotta, Stuttgart 1859 u. 1860; später: 6 Bde. ebendort 1861–1862.
Wer wirklich einmal den französischen Originaltext mit der Hauffschen Bearbeitung verglichen hat, weiß, dass den sehr werbewirksamen Sprüchen des Titelblattes nicht zu trauen ist. Der Bibliothekar Hauff hat nur eine teilweise Übersetzung geliefert, ließ aber trotz der ausdrücklichen Vereinbarung mit Humboldt viel, oft einfach zu viel aus, während das Titelblatt sich schwer durchschauen ließ und dem Leser die Überzeugung aufdrängte, hier sei ein Problem mit Humboldts Einverständnis gelöst worden. Das war gewiss nicht der Fall. So brach Hauff die Schilderung der Reise einfach mit der Ankunft in Havanna auf Kuba am 19. Dezember 1800 ab, während Humboldt sie bis zum Beginn der Befahrung des Río Magdalena weiterführte. Schon vom Geist des Spezialistentums bestimmt, verstand Hauff die Reise von allen möglichen Einzelwissenschaften her und übersah Humboldts wegweisende Leitidee, ja er ließ die alles entscheidende Passage mit Humboldts „Einführung“ einfach fort und löschte sie damit im Gedächtnis der folgenden Zeit aus. Es sei hier auf ein Register seiner Untaten verzichtet, wissen wir doch ohnehin nicht, auf wen die schwersten Verstümmelungen zurückgehen: auf ihn oder seinen Verleger? Vieles mag an Hauff gelegen haben, während anderes und vielleicht sogar das meiste vom Verlag manipuliert wurde, so etwa der merkwürdige Satz am Schluss in der »Vorrede des Herausgebers«, Humboldt und er, Hauff, seien übereingekommen, »das Buch als literarisches Product möglichst unversehrt zu erhalten, nirgends auszugsweise zu verfahren, sondern im Ganzen überall dem Texte treu zu bleiben« und nur gar zu wissenschaftliche Betrachtungen »abzulösen«. So mag es vereinbart worden sein, allein der Verlag hat sich nicht daran gehalten. Humboldts Vorwort für die Ausgabe vom 26. März 1859 ist 42 Tage vor seinem Tod unterzeichnet worden, d. h. doch, dass Hauff und nicht zuletzt der Verlag »freie Hand« hatten.
Hauff setzte die einzige vollständige Übersetzung von Ferdinand Gottlieb Gmelin (Band 1) und vor allem von Paulus Usteri (Band 2 bis 6, Teil 1) sehr herab: Reise in die Aequinoctial-Gegenden des neuen Continents in den Jahren 1799, 1800, 1801, 1802, 1803 und 1804 . J. G. Cotta, 6 Theile, Stuttgart u. Tübingen 1815–32). Sie ist nie sehr einflussreich gewesen und seither zu Unrecht vergessen worden, ein Vorgang, den Hauff leider sehr gefördert hat.
Von Hauff leiteten sich die meisten späteren Ausgaben ab, deren Verfassern offenbar nie bewusst war, dass ein französisches Original existierte. Erst die Darmstädter Ausgabe A. v. Humboldt Hanno Becks hat mit drei Bänden, 1306 Seiten und einem Kommentar von 119 Seiten das Problem für den Leser der Gegenwart gelöst. Insgesamt jedenfalls ein wahrhaft niederschmetterndes Ergebnis, und das 145 Jahre nach dem Tod Alexander v. Humboldts am 6. Mai 1859 in Berlin!
Um die hier vorliegende reisegeschichtliche Rekonstruktion verstehen zu können, werden die eben gewonnenen Einsichten nun zunächst mit Humboldts Leben verbunden.
KURZER BLICK AUF HUMBOLDTS LEBEN UND DAS WERDEN SEINER LEITWISSENSCHAFT
Alexander v. Humboldt wurde am 14. September 1769 in Berlin geboren. Bis zum Alter von 30 Jahren kränkelte er nach eigenem Bekenntnis oft. Seine Eltern, der preußische Major Alexander Georg v. Humboldt und Marie Elisabeth, geb. Colomb, vertrauten seine Erziehung Hauslehrern an, die den für die frühe Kindheit recht erheblichen Altersunterschied zwischen den Brüdern Wilhelm (1767–1835) und Alexander (1769–1859) nicht ausglichen. Da der Unterricht philologisch-geisteswissenschaftlich bestimmt war, kam er der Begabung des älteren Bruders mehr entgegen, so dass auch deshalb der jüngere als der weniger begabte galt.
Beide Brüder begannen ihr Studium an der Universität Frankfurt a. d. Oder, mussten es jedoch nach kurzem Anlauf wieder abbrechen. Wilhelm durfte sein Studium sofort in Göttingen fortsetzen, während Alexander, der sich nicht bewährt zu haben schien, in Berlin von Hauslehrern weiterunterrichtet wurde.
Bis dahin waren die Brüder von Gottlob Johann Christian Kunth auf Wunsch der Mutter mehr als behütet worden, ähnlich wie der Emile in Jean Jacques Rousseaus beispielgebendem Roman.
In dieser Zeit nach der Heimkehr aus Frankfurt an der Oder im Jahr 1788, beriefen die Mutter und Kunth den in Berlin bestens bekannten Oberkonistorialrat Johann Friedrich Zöllner (1753-1804) als neuen Hauslehrer. Damals war Anton Friedrich Büsching als führender Geograph der Epoche der Spätaufklärung 1750 bis 1799 Kollege Zöllners. Dieser war allerdings der entschieden modernere geographische Denker: Mitglied der berühmten „Mittwochsgesellschaft“, offener Gegner des Wüllnerschen Religionsediktes und Besucher des Salons der Henriette Herz. Kunth und die Brüder Humboldt dürften Zöllner hier schon begegnet sein.
In ihm erlebte der jüngere Humboldt erstmals einen Hauslehrer anderer Art: Einen Lehrer, der ihn ernstnahm, ihn anerkannte und sein Freund wurde. Alexander lebte damals förmlich auf. Der neue Hauslehrer ging mit seinem Zögling z.B. in die Akademie der Künste, um dort ein bedeutsames Reliefmodell des Riesengebirges zu bewundern, das ein einfacher Schlesier geschaffen hatte, den der Lehrer bald persönlich kennenlernen sollte. Und als Zöllner sich auf eine gut geplante Reise nach Schlesien vorbereitete, notierte er sich Fragen, die der Schüler gern beantwortet sehen wollte. Während dieser Reise schrieb der Lehrer ausführliche Briefe an Humboldt und an seine Frau. Diese Briefe vereinigte er 1792 und 1793 in den beiden hochinteressanten Bänden seines Reisewerkes: Briefe über Schlesien, Krakau, Wieliczka und die Grafschaft Glatz auf einer Reise im Jahr 1791 (Berlin).
Er schrieb über die Eigenheiten des Riesengebirges unter Berücksichtigung des Geographischen Anordnungsschemas und aller Geofaktoren und über die Geomorphographie der Reliefmodelle. Er berichtete vom anbrechenden Fremdenverkehr in Badeorten, von ersten Umweltschäden, von Wasseranalysen und einer Tabelle mit Höhenmessungen. Er schilderte die Not der vom verantwortungslosen Adel unterdrückten Bauern und die Armut der Weber. Kein Wunder, dass Humboldt von diesem Mann schrieb, »er könnte der erste Naturforscher unter den Sterblichen werden«.
Mit der Entdeckung Zöllners ist mir wahrscheinlich der letzte große Fund im Rahmen meiner Humboldt-Forschung gelungen (siehe »H. Beck: Erkenntnissgewinne des jungen Alexander v. Humboldt« in: Abh. d. Humboldt-Gesellschaft, Band 16, Mannheim 200, Seite 13-44).
Kurze Zeit später, immer noch im Jahr 1788, erlaubte man dem 19-jährigen Alexander v. Humboldt den ersten freien Ausgang. Er begab sich, wohl mit Wissen Zöllners, sofort zu Karl Ludwig Willdenow, dem nur fünf Jahre älteren, talentiertesten Botaniker Berlins. Und wieder begegnete er einem Gelehrten, der ihn, wie Zöllner, schließlich als Freund betrachtete.
Aufflammende Freundschaft und Begabung rissen ihn erneut aus dem bisherigen Trott. Willdenow stieß ihm das Tor zur wissenschaftlichen Botanik auf, wies ihn auf Japan hin und ermöglichte ihm, gerade als niemand an ihn glaubte, die Formulierung eines ersten Forschungsprogramms: »Geschichte der Pflanzen«. In ihm sollten Ausbreitungsvorgänge von Pflanzen von einem Heimatgebiet aus über die Erde verfolgt werden. Humboldt hat in diesem Rahmen bald an das Substrat, den Boden und an Pflanzenfossilien gedacht, um der migrativen (auf Wanderungen bezogenen) Idee gerecht zu werden. Bald weitete sich das Programm zur Pflanzengeographie aus.
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