»Warum denn?«
Sie faltete das Telegramm wieder zusammen und steckte es in ihre Tasche zurück.
»Man hatte gar nicht nach mir verlangt. Das Telegramm war nur ein Vorwand.«
»Ein Vorwand?« fragte Gold verwundert. Da stimmte doch etwas nicht … Aus irgendeinem Grund hatte sie jemand von zu Hause fortgelockt.
Sobald der Zug in den Bahnhof eingefahren war, sprang er heraus und lief mit Verity zum nächsten Taxistand.
»Cristal Palace Road – und fahren Sie so schnell wie möglich.«
Verity sah ihn verwundert an.
»Warum haben Sie es denn so eilig?«
»Oh, nichts …«
Der Wagen bremste vor dem Haus, und Gold stieg aus. Er nahm sich kaum die Zeit, Verity herauszuhelfen. Dem Chauffeur warf er ein Geldstück zu und lief sofort zur Haustür.
»Warten Sie hier«, rief er Verity über die Schulter zu. »Geben Sie mir den Schlüssel.«
Sie gab ihm den Schlüssel und blieb stehen. Er öffnete und machte einen Schritt in den dunklen Hausgang – sie sah gerade noch, daß er eine Pistole aus der Hüfttasche zog, dann war er verschwunden.
Vorsichtig tastete sich Gold den finsteren Gang entlang, bis er an die Küchentür stieß. Er drückte auf die Klinke und versuchte vorsichtig, die Tür zu öffnen – irgend etwas setzte ihm Widerstand entgegen. Mit aller Kraft stemmte er sich gegen die Tür, bis sie langsam nachgab.
Er fand den Lichtschalter und übersah gleich darauf die Situation. Maple lag betrunken auf dem Boden, eine leere Whiskyflasche erklärte seinen Zustand hinreichend.
Gold lief zum Tisch.
Das Schälchen war verschwunden, ebenso die Banknoten, mit denen Maple experimentiert hatte.
Gold fluchte zusammenhanglos – genau das war es, was er befürchtet hatte.
Er versuchte Maple aufzuheben, aber das war zwecklos. Der Mann hing so schlaff in seinen Armen wie ein Mehlsack. Ärgerlich ging er zu dem Mädchen zurück, das ihn ängstlich ansah.
»Ihrem Onkel geht es nicht gut«, erklärte er. »Haben Sie Freunde, zu denen ich Sie bringen kann?«
Es war nicht notwendig, ihr zu erklären, was mit ihrem Onkel los war. Sie hatte ähnliche Situationen schon oft genug erlebt.
»Ich – ich habe ein paar Bekannte in der Stadt …«, flüsterte sie.
Er nickte, schloß die Tür und begleitete sie zum Bahnhof. Erst als er sie sicher in einem Abteil untergebracht hatte, kehrte er zu dem Haus zurück.
Als sein Taxi in die Christal Palace Road einbog, fuhr ein anderes Auto in entgegengesetzter Richtung schnell an ihm vorbei.
Er erreichte das Haus, schloß wieder auf und ging hinein. Im Gang stieß er mit dem Fuß an einen Gegenstand und hob ihn auf. Es war ein feiner Stahlstichel, wie ihn Graveure verwenden.
Er steckte ihn in die Tasche und ging in die Küche.
Aber der Raum war leer – Tom Maple war verschwunden.
Inhaltsverzeichnis
Es war neun Uhr abends, die Dämmerung legte sich langsam über das Häusergewirr Londons, als ein schlanker Mann eilig durch die Little Painter Street schritt. An einem alten Haus machte er halt, öffnete die Tür, trat in das Treppenhaus und blieb eine Weile lauschend stehen. Kein Laut war zu hören. Der Mann wußte, daß der Hausmeister um diese Zeit nicht da war.
Er zögerte noch ein wenig, dann lief er schnell die Treppe hinauf, bis er zu der Tür kam, die die Aufschrift »Willetts« trug. Er öffnete sie und trat ein.
Hastig schloß er den Schreibtisch auf, nahm ein Blatt Papier aus einer Schublade und begann zu schreiben, nachdem er zuvor das Licht angeknipst hatte.
Er schrieb fast eine Stunde lang und hielt nur einmal inne, um sich eine Zigarette anzustecken. Sorgfältig war er darauf bedacht, die Asche in dem Papierkorb abzuklopfen; als er die Zigarette zu Ende geraucht hatte, warf er den Stummel durch das offene Fenster in den Hof.
Er beschrieb verschiedene Blätter. Als er fertig war, las er sie noch einmal genau durch und verbesserte an einigen Stellen etwas. Dann zog er seine Brieftasche heraus, entnahm ihr drei amerikanische Banknoten im Werte von je tausend Dollar, schob sie in einen länglichen Umschlag und schrieb eine Adresse darauf.
Er steckte das Kuvert in die Brusttasche seines Jacketts, drehte das Licht aus und saß lange mit gesenktem Kopf vor seinem Schreibtisch. Erst als er hörte, wie eine Uhr in der Stadt elf schlug, erhob er sich mit einem leisen Seufzer, trat ans Fenster, schaute hinaus und schloß es dann vorsichtig.
Nach einem letzten Blick durch den dunklen Raum ging er Zur Tür, öffnete sie und lauschte. Das Haus war totenstill.
Schnell huschte er die Treppe hinunter, öffnete lautlos die Haustür und trat auf die Straße. Erst am nächsten Briefkasten hielt er an, um seinen Brief einzuwerfen. Er war an Comstock Bell, Terriers-Klub adressiert. Über seine Züge glitt der Schimmer eines Lächelns, als er ihn einwarf.
Am nächsten Tag kam Comstock Bell zum Lunch in den Terriers-Klub. Der Portier übergab ihm einen Brief, dessen Adresse in einer sehr merkwürdigen Handschrift geschrieben war. Ein Sachverständiger hätte sofort erkannt, daß hier jemand seine Schrift verstellt hatte.
Helder, der Bell am Eingang getroffen hatte, beobachtete scharf, wie der junge Mann das Kuvert von allen Seiten betrachtete, in der Hand wog und die Briefmarke untersuchte. Schließlich riß er es auf und zog fünf engbeschriebene Blätter heraus – und drei Banknoten.
»Ein unbekannter Wohltäter?« fragte Helder verbindlich.
Bell warf einen schnellen Blick auf den Brief, runzelte die Stirn und legte das Geld wieder in den Umschlag zurück.
»Nein«, entgegnete er kurz.
Nach dem Lunch ging Bell in das Schreibzimmer. Helder folgte ihm scheinbar gleichgültig, setzte sich an einen der Schreibtische und begann in seinem Notizbuch zu blättern. Niemand außer ihnen war im Raum.
Helder war von Natur aus neugierig; außerdem gehörte es zu seinen Plänen, so viel wie möglich über Comstock Bell in Erfahrung zu bringen. Als Bell schließlich das Zimmer verließ, ging Helder wie zufällig an dem Tisch vorbei, an dem Bell gesessen hatte. Man konnte nie wissen – vielleicht fand er etwas, das für ihn von Interesse war.
Seine Hoffnungen hatten nicht getrogen – auf der Schreibtischunterlage lag der Brief, den Bell vorher erhalten hatte.
Helder ging schnell zum Fenster, von dem aus man auf die Straße sehen konnte. Wenn Bell den Brief tatsächlich vergessen hatte und fortgegangen war, mußte er in einigen Sekunden unten vorbeigehen. Er wartete ungeduldig, dann grinste er zufrieden – Comstock Bell überquerte unten die Straße.
Jetzt zögerte Helder nicht länger – er trat an den Tisch, nahm den Umschlag und zog einige engbeschriebene Seiten heraus. Dann stellte er sich wieder ans Fenster, um zu sehen, ob Bell eventuell zurückkehren würde.
Immer wieder auf die Straße spähend, überflog er die Zeilen. Es war dieselbe unregelmäßige Handschrift, die er auf dem Kuvert gesehen hatte. Ein sonderbarer Brief – er drückte Reue und Bedauern aus. Man konnte daraus entnehmen, daß der Schreiber Bell etwas schuldete und ihm das geliehene Geld zurückgeben wollte. Helder suchte nach der Unterschrift – es verhielt sich so, wie er angenommen hatte –, der Brief stammte von Willetts. Das ganze Schreiben machte einen zusammenhanglosen Eindruck, Immer wieder wurde Bell gebeten, Willens nicht zu verraten. Einige nichtssagende Bemerkungen über das Schicksal und die Vorsehung veranlaßten Helder, verächtlich die Brauen hochzuziehen.
Rasch faltete er dann den Brief zusammen und schob ihn mit den Banknoten wieder in den Umschlag zurück. Er legte ihn genau auf die Stelle der Schreibtischunterlage, wo er ihn weggenommen hatte. Als er noch einmal einen Blick durch das Fenster warf, sah er, daß Bell eben mit schnellen Schritten zurückkam – anscheinend hatte er den Brief jetzt doch vermißt. Helder verließ eilig, den Raum und war schnell genug in der Empfangshalle, um Bell an sich vorbeigehen zu sehen.
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