
Abb. 2: Die vier Säulen des Selbstwertes 5
Im Hinblick auf die notwendigen Voraussetzungen innerhalb der Familie ist es aus Sicht der US-amerikanischen Psychotherapeutin und Familientherapeutin Virginia Satir (1994, S. 48) zur Entwicklung eines stabilen Selbstwertgefühls notwendig, dass Kinder in einer Atmosphäre aufwachsen,
»in der individuelle Unterschiede gewürdigt werden, Liebe offen zum Ausdruck gebracht wird, wo die Möglichkeit besteht, aus Fehlern zu lernen, wo offen kommuniziert wird, Regeln flexibel gehandhabt werden, Verantwortlichkeit (Übereinstimmen von Versprechungen und deren Umsetzung in der Realität) vorgelebt wird und Ehrlichkeit praktiziert wird.«
Die Pädagogin Christina Krause und der Gesundheitswissenschaftler und Psychotherapeut Rüdiger-Felix Lorenz definieren in ihrem ausgesprochen gelungenen Buch »Was Kindern Halt gibt – Salutogenese in der Erziehung« das Selbstwertgefühl als »die gefühlsmäßig verankerte Beziehung eines Menschen zu sich selbst … [welche] die Akzeptanz der eigenen Person sowie Zuversicht in die eigenen Möglichkeiten ein[schließt]« (Krause u. Lorenz 2009, S. 51). Analog zu Potreck-Rose und Jacob beschreiben sie ähnliche Bedingungen, die zu einem günstigen Wachstumsprozess führen (ebd.): »Das Selbstwertgefühl entsteht aus dem Erleben von Angenommenwerden, von Kompetenz, von Partizipation und von Anerkennung.« Hier wird deutlich, wie stark der Mensch mit seiner Binnenstruktur in Interaktion mit seiner Umgebung steht und wie beide Dimensionen, die intra- und die interpersonelle, sich wechselseitig bedingen und stärken.
Ein weiterer für die Biografiearbeit wichtiger Begriff ist Autonomie. Der Duden definiert sie als
1. (bildungssprachlich) [verwaltungsmäßige] Unabhängigkeit, Selbstständigkeit
2. (Philosophie) Willensfreiheit 6
Der argentinische Autor, Psychiater und Gestalttherapeut Jorge Bucay erläutert in seinem Werk »Drei Fragen – Wer bin ich? Wohin gehe ich? Und mit wem?« den Wortstamm wie folgt (Bucay 2017, S. 84):
»Das Wort Autonomie klingt technisch und distanziert, aber gemäß seiner etymologischen Bedeutung (von auto , was »selbst« bedeutet, und nomos , was »Gesetz oder Norm« heißt) beinhaltet es ganz ohne Zweifel die Herausforderung, frei zu sein. Autonom ist jemand, der immer in der Lage ist, seine eigenen Regeln, Gesetze und Gewohnheiten festzulegen, zu handhaben und zu systematisieren.«
Bieri versteht unter Autonomie »die Bestimmung über mich selbst« (Bieri 2016, S. 73), und er führt an anderer Stelle aus (ebd., S. 13):
»Selbstbestimmt ist unser Leben, wenn es uns gelingt, es innen und außen in Einklang mit unserem Selbstbild zu leben – wenn es uns gelingt, im Handeln, im Denken, Fühlen und Wollen der zu sein, der wir sein wollen.«
Ein weiterer Schlüsselbegriff der biografischen Arbeit ist der Begriff der Ressource. Der Duden definiert eine Ressource wie folgt: 7
1. natürlich vorhandener Bestand von etwas, was für einen bestimmten Zweck, besonders zur Ernährung der Menschen und zur wirtschaftlichen Produktion, [ständig] benötigt wird
2. Bestand an Geldmitteln, Geldquelle, auf die jemand zurückgreifen kann
Als Ressourcen werden laut dem Psychologen Hilarion Gottfried Petzold (1997, S. 451 f.) »alle Mittel gesehen, durch die Systeme sich als lebens- und funktionsfähig erhalten (operating), Probleme bewältigen (coping), ihre Kontexte gestalten (creating) und sich selbst im Kontextbezug entwickeln können (developing)«. Die Psychologen Thomas Möbius und Sibylle Friedrich betrachten personale, soziale und materielle Ressourcen als »diejenigen Mittel …, die zur Bewältigung von Entwicklungsaufgaben personaler und sozialer Systeme wesentlich beitragen« (Möbius u. Friedrich 2010, S. 15).
Der Schweizer Entwicklungspsychologe Werner Wicki (1997, S. 49) unterscheidet Ressourcen in drei Kategorien ( Tabelle 3).
Inhalt |
Herkunft |
Personale Ressourcen |
Familiale Ressourcen |
Außerfamiliale Ressourcen |
Materiell/physisch |
Körperliche Gesundheit, Kleidung, persönliches Vermögen, Besitz |
Wohnraum, Nahrungsmittel, Einkommen |
Sozialleistungen, soziale Stützsysteme (im Sinne materieller Hilfe) |
Psychisch/sozial |
Bildung, psychisches Wohlbefinden, Überzeugung, Persönlichkeit, Belastbarkeit |
Zusammenhalt, partnerschaftliche Unterstützung, Rituale, Werte, Kultur, Erziehung |
Soziale Unterstützung, soziale Stützsysteme (informationsbezogene Hilfe), gute Dritte |
Tabelle 3: Ressourcentypen mit Beispielen (aus Wicki 1997, S. 49)
Der Soziologe Norbert Herriger stellt eine umfassende Definition vor, die besonders auf die funktionale Bedeutung und die Gestaltung im Alltagsleben fokussiert (Herriger 2006, S. 3):
»Unter Ressourcen wollen wir somit jene positiven Personenpotenziale (»personale Ressourcen«) und Umweltpotenziale (»soziale Ressourcen«) verstehen, die von der Person
1) zur Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse,
2) zur Bewältigung altersspezifischer Entwicklungsaufgaben,
3) zur gelingenden Bearbeitung von belastenden Alltagsanforderungen,
4) zur Realisierung von langfristigen Identitätszielen genutzt werden können und damit zur Sicherung ihrer psychischen Integrität, zur Kontrolle von Selbst und Umwelt sowie zu einem umfassenden biopsychosozialen Wohlbefinden beitragen.«
2.7Autobiografisches Gedächtnis
Kommen wir nun am Ende dieses Kapitels zur Erläuterung dessen, was uns überhaupt in die Lage versetzt, frühere Erfahrungen und Erlebnisse erinnern zu können. Sich in der Zeit erinnern zu können ist eine Fähigkeit, die Menschen erst mit den Jahren erlernen. Die erste Stufe eines bloßen Wiedererkennens von Personen und Gegenständen beherrschen Säuglinge bereits relativ frühzeitig. Die nächste Stufe des Erinnerns ist nach dem Psychologen und Gedächtnisforscher Hans Markowitsch und dem Soziologen und Sozialpsychologen Harald Welzer (2005, S. 153)
»ein bewusster Prozess, den die meisten Kinder erst im Alter von acht neun Monaten meistern. Das Gedächtnissystem, das jetzt entsteht und das dem aktiven Erinnern zugrunde liegt, bezeichnet man als Arbeitsgedächtnis. … Mit der Entstehung des Arbeitsgedächtnisses sind Kinder erstmals in der Lage für kurze Augenblicke gedankliche Bilder von Gegenständen und Personen zu formen und aktiv abzurufen.«
Das so beschriebene Arbeitsgedächtnis wird auch Kurzzeitgedächtnis genannt, in dem Informationen weniger als eine Minute verbleiben.
»Menschliche Gehirne verarbeiten aber nicht nur Informationen, also reaktionsauslösende Wahrnehmungsreize, sondern vor allem Wahrnehmungen, die Bedeutung haben. Die Fähigkeit, einer Wahrnehmung Bedeutung zu geben, ist wiederum etwas, das nur Menschen zu eigen ist« (ebd., S. 35).
Die Fähigkeit, »Ereignisse in ihrer komplexen zeitlichen und kausalen Ordnung wahrzunehmen und zu erinnern«, entsteht circa um das vierte Lebensjahr herum (ebd., S. 205). Markowitsch und Welzer nennen diese Fähigkeit das »autobiografische Gedächtnis«, das nach
»dem sechsten Lebensjahr zu einer relativ stabilen Verarbeitungsform findet. … Ein Gedächtnissystem, das Erlebtes auf ein kontinuierliches Ich bezieht und mentale Zeitreisen zwischen gestern, heute und morgen erlaubt, ist in der frühen Kindheit noch nicht vorhanden« (ebd., S. 229).
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