1 ...8 9 10 12 13 14 ...20 Jetzt im Tageslicht – die Sonne kam allerdings nicht hervor – sah ich, dass Sucherins Versteck unter einem völlig kargen Stück Land lag. Vielleicht diente dieser Hinterhof als Kinderspielplatz, doch die Kinder hielten sich dann doch wohl noch eher in Treppenhäusern auf. Hier stand nur in einer Ecke eine Art Geräteschuppen, aber nichts zum Spielen.
Ich ging ein Stück weiter die Straße entlang, noch sehr unsicher. Überall die gleichen Hochhäuser, einige bunt angemalt, aber die Farbe blätterte schon wieder ab, als weigerte sie sich, das graue Innere zu überdecken.
Der Lärm von der Straße war einigermaßen auszuhalten. Ich bemerkte einen großen Anteil schrottreif aussehender Autos und verbeulter Robot-Busse. Fußgänger stapften gleichgültig mit niedergeschlagenen Augen aneinander vorbei, von der Hochstraße kam ein dumpfes Grollen und in der Ferne sirrten einige Schweber herum.
Ich seufzte: es war alles wie gewohnt.
Ziellos trabte ich weiter und die Silhouette der gigantischen Stadt prägte sich mir wieder ein. Wie ein wachsender Moloch, der jedes Leben verschlang.
Und dann, als ich aus der Siedlung raus war, der Blick auf einen riesigen Industriekomplex: hoch aufragende Fabrikschornsteine, aus denen gelblicher Rauch strömte, langgezogene graue, fensterlose Hallen, Bürogebäude, Stacheldrahtzäune mit Robot-Wächtern und das Stampfen und Dröhnen der Maschinenanlagen.
Sogar der Boden unter meinen Füßen erzitterte, und je mehr ich darauf achtete, desto sicherer wurde ich, dass der Krach nicht nur aus der Entfernung kam, sondern auch aus der Tiefe. Der weitaus größte Teil der Fabrikation fand also unterirdisch statt.
Ich schauderte. Ein wahrhaft höllischer Fortschritt. Wahrscheinlich bekamen die Arbeiter dort niemals Tageslicht zu sehen.
Ich machte einen großen Bogen um den Komplex und angesichts der Wachen wunderte ich mich erst jetzt, dass ich auf meinem bisherigen Weg keinen einzigen Cop zu Gesicht bekommen hatte. Stattdessen waren mir mehrere Pulks Jugendlicher aufgefallen, die unverhohlen die verschiedensten Waffen zur Schau trugen.
Ich hatte mich ängstlich von ihnen ferngehalten, sie hatten aber nirgends einen Zwischenfall provoziert.
Plötzlich kam mir der Gedanke, wie es wohl nachts hier aussehen würde. Ob solche Banden dann die Gegend kontrollierten?
Aber ich wusste ja nichts über ihre Motive und Ziele. Vielleicht nahmen sie nur bestimmte Geschäfte und Leute aufs Korn oder waren sogar völlig harmlos.
Ich sollte mich davor hüten, voreilige Schlussfolgerungen zu ziehen, dachte ich, und der Mangel an aktuellen Informationen machte mir wieder zu schaffen.
Während ich immer weiterging, wurde mir klar, dass dies eigentlich das dringendste Problem war. Ich musste erfahren, was sich in den Jahren meiner Abwesenheit hier ereignet hatte, um wieder handlungsfähig zu werden. Dazu war es notwendig, alte Bekannte aufzutreiben und sie auszufragen. Ein paar abgehörte Funksprüche, als wir uns der Erde näherten, reichten da nicht aus.
Mit einem neuen Ziel vor Augen war ich jetzt wesentlich sicherer. Ich war nun auch überzeugt, dass ich weiter nicht auffiel, und Fahndungsplakate oder -holos hatte ich noch nirgends gesehen.
Meldungen über uns Terroristen konnten bisher nur über Tri-Di gelaufen sein. Und wer prägte sich schon angesichts einer Fernsehsendung genau fremde Gesichter ein?
Da ich mich hier überhaupt nicht auskannte, musste ich zunächst weiter ins Zentrum kommen. Ich hielt nach einer U-Bahn-Station Ausschau und testete dort angekommen am Fahrkarten-Automat gleich die Münzen, die ich von Sucherin bekommen hatte. Eine Anzahl fiel einfach durch, aber ein paar hatten noch ihren Wert und so kam ich zu einem Fahrschein (Schwarzfahren wäre doch sehr riskant gewesen, zumal ich nicht wusste, welche Kontrollen es gab).
Ich stellte dann fest, dass die Station nicht nur als Bahnhof benutzt wurde, sondern es eine Reihe gewaltiger Anti-Grav-Fahrstühle gab, die anscheinend die Arbeiter und Arbeiterinnen in die unterirdischen Fabriken brachte. Eine Gruppe von ihnen, die wohl Feierabend hatte, strömte mir entgegen: blasse Gesichter und abgemagerte Gestalten, alle in eine blaue Montur gekleidet. Sie sprachen kaum miteinander und strebten rasch dem Ausgang zu. Das waren bestimmt keine Leute, die nur auf Knöpfe drückten und Computerprogramme überwachten. Die übelste Arbeit wurde wie immer von den ärmsten Leuten ausgeführt. Da waren sogar Maschinen und Roboter zu teuer.
Ich schüttelte mich und trat auf den Bahnsteig. Leise zischte kurz darauf die Röhrenbahn heran. Natürlich wurde sie vollautomatisch gesteuert. Die Atmosphäre drinnen war so, wie ich sie in Erinnerung hatte: die Leute saßen stumm auf den zerschlissenen Plastikbänken, teilweise kleinformatige Zeitungen lesend, einige hörten Nachrichten- oder Musikspulen an. Hier sah ich auch zum ersten Mal einen großen Anteil Schwarzer, die wohl ebenfalls von irgendeiner Drecksarbeit kamen. Auswanderer von den Südlichen Inseln, die hier für einen Hungerlohn schuften mussten. In ihrer Heimat wären sie wahrscheinlich in den Slums umgekommen.
Eine Gruppe Jugendlicher fiel durch ihre Kleidung und ihr Aussehen auf. Sie waren alle stark geschminkt und trugen eine Art Glitzerklamotten. So etwas änderte sich eben alle paar Monate.
Die Modeindustrie musste ja auch ihren Umsatz machen.
Die Stille wurde andauernd durch Werbesprüche unterbrochen, die über Lautsprecher in den Wagen blökten. Dazu leuchteten Reklametafeln auf, von denen aber ein großer Teil zerstört worden war. In einer Ecke hing sogar ein Tri-Di-Apparat – ebenfalls – zerdeppert.
Allmählich kamen mir die Haltepunkte bekannt vor und ich überlegte, wo ich aussteigen sollte. Plötzlich schoss mir die Frage durch den Kopf, ob meine Eltern wohl noch lebten. Aber was nützte ein Treffen mit ihnen? Wir hatten uns schon lange nichts mehr zu sagen gehabt, immer nur gegenseitige Anmache ... Wahrscheinlich hatten sie die ganze Zeit angenommen, dass ich längst tot war. Die Hetzjagd auf mich als Terroristen würde ihnen einen ganz schönen Schock versetzen. Ich konnte mir sogar vorstellen, dass mein Vater sofort die Cops benachrichtigen würde, wenn er wüsste, wo ich mich aufhielt. Die würden sowieso früher oder später ins Haus kommen, um rauszukriegen, ob ich mich dort gemeldet hatte.
Nein, das hatte also keinen Sinn. Die erste, die mir sonst einfiel, war Flie. Ich beschloss, zu ihrer alten Wohnung zu gehen, wo sie mit Lucky und anderen gewohnt hatte. Wahrscheinlich würde ich sie dort nicht antreffen, denn sie hatte ja zuletzt als Dolmetscherin gearbeitet und da hatte sie wohl in eine andere Umgebung umziehen müssen. Aber vielleicht konnte ich über die Nachmieter etwas erfahren. Obwohl, nach neun Jahren ...
Wieder einmal wurde mir bewusst, dass ich eigentlich zwei Flies kannte: die erste, die jetzt in der anderen Realität war, und die zweite, die ich auf den Südlichen Inseln wiedergetroffen hatte. Ich hatte lange Gespräche mit Sucherin über dieses Phänomen geführt, und sie war ziemlich entsetzt über diese Verwirrung der Existenzebenen , wie sie es nannte. Sie gab sich selbst einen Teil der Schuld daran, weil sie meinte, damals als Beobachter uns einen unvollständigen Ebenenwechsler gegeben zu haben. Das Modell der damaligen Regs hatte einiges durcheinandergebracht.
Nicht erklärt war damit meine selbstständige Rückkehr in die alte Realität. Ich selbst hatte einmal zaghaft die Vermutung geäußert, dass es sich hier gar nicht um meine Ursprungsrealität handelte, sondern um eine geringfügig neue. Sucherin war davon nicht überzeugt, weil ein Wechsel in eine dritte Realität noch schwieriger zu erklären war. Sie meinte, dass ich durch meine Rückkehr das ohnehin angeknackste Ebenen-Gefüge weiter in Unordnung gebracht hätte und dadurch diese Doppelpersonen heraufbeschworen hätte. (Wie dabei eine so ähnliche Flie und gleichzeitig eine so unähnliche Winnie entstehen konnten, wusste sie allerdings auch nicht).
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