1 ...7 8 9 11 12 13 ...20 Sie sah sich genauer um, um festzustellen, wo sie sich genau befand. Der Straßenname Park Avenue sagte ihr nichts, sie wusste nicht mal, was ein Park war. Auf beiden Seiten der Straße erstreckten sich riesige Wolkenkratzer aus glasfiberartigem Material. Die meisten von ihnen waren in sich abgeschlossene Wohn- und Lebenseinheiten mit angeschlossenen Freizeiteinrichtungen, Warenlagern, Tri-Di-Kinos, Kneipen, Discos, Schwimmbädern und Versorgungspools. Ihre Bewohner arbeiteten meist dort auch in irgendwelchen Verwaltungsbüros oder der Computerüberwachung. Es ging das Gerücht um, dass einige dieser Leute ihre Wohneinheit noch nie verlassen hatten – und auch noch stolz darauf waren.
Weiterhin gab es hier am Ende der Straße einige Forschungsinstitute der Universität und die alte Bibliothek. Diese hätte sie noch gern aufgesucht, aber ihr wurde plötzlich doch übel in dieser protzigen Gegend, die nicht für sie bestimmt war und in der sie sich nicht auskannte.
Sie wartete noch einige Minuten, ob sich die Spannung wieder aufbauen würde, und als das nicht der Fall war, machte sie sich auf den Rückweg. Die Bibliothek hatte ihr den Weg gewiesen.
Neben ihr schwirrten einige Gleiter und Schwebewagen vorbei. Die ersten Menschen, die am wenigsten arbeiten mussten, waren schon auf dem Heimweg. Später würde es selbst hier zu einem Verkehrschaos kommen. Dort, wo sie wohnte, gab es das praktisch dauernd, ob es sich um die stinkende immer gerammelt volle U-Bahn oder die anderen öffentlichen Verkehrsmittel handelte, welche die Menschen in die unterirdischen Fabriken und von dort wieder nach Hause brachte. Der Lärm war den ganzen Tag unerträglich.
Eine Stunde Fußweg hatte sie noch vor sich, doch sie war nichts anderes gewohnt. Sie steckte die Hände in die Taschen ihrer verschlissenen Jacke und ein kleines Lächeln umspielte ihr schmutziges Gesicht, als sie daran dachte, dass sie nun doch nicht um das tägliche Training mit ihren Freundinnen und Freunden herumkommen würde.
Dope me up on women and credit cards
Promise x-ray vision and fancy cars
The table’s set for the bourgeoisie
Better get in line with your dinner tray
‘cause when it’s all ran out and it’s just you left
With the nut job swigging his crystal meth
And there’s a constant ring of machinery
Is there a place for me in history?
Kasabian - »Shelter from the Storm«
Mir war sofort klar, dass wir auch hier nicht lange bleiben konnten. Jedenfalls nicht alle. Es war einfach zu klein und eng. Sucherins Versteck war eben nur für eine Person eingerichtet. Und sie wirkte auch selbst etwas hilflos, wie wir uns hier so drängelten.
Sie räumte einige Gegenstände beiseite und verschob hier und da etwas an der spärlichen Einrichtung, damit wir wenigstens das Rene einigermaßen gut unterbringen konnten.
Die ganze Höhle schien von innen heraus immer etwas zu flimmern, als könnte ich die Sachen nicht richtig mit meinen Augen erfassen. Alles verschwamm immer wieder vor meinem Auge.
Sucherin bemerkte meine Irritation und legte mir den Arm um die Schultern: »Du brauchst dich deswegen nicht zu ängstigen. Dieser Effekt, den du wahrnimmst, entsteht aus der besonderen Kombination meiner Psyche mit der technischen Materie dieses Raumes.«
Ich nahm sie in meine Arme und drückte sie an mich.
»Du glaubst doch nicht, dass ich das verstehe.«
»Dummkopf,« flüsterte sie zurück und küsste mich.
Einer der Helfer räusperte sich – es klang jedenfalls wie das Äquivalent eines Räuspern.
»Nicht, dass ich Liebende stören will, aber es werden dringend einige Sachen benötigt, die für das Rene lebensnotwendig sind.«
»Klar«, sagte ich, »wir selbst benötigen ja auch einiges.«
»Vor allem Informationen, wie es draußen aussieht«, bestätigte Sucherin. »Lebensmittel habe ich noch etwas in konzentrierter Form hier. Das dürfte fürs erste kein Problem sein. Aber was braucht das Rene?«
»Vor allem Kälte«, erklärte der andere Helfer. »Das Klima hier wird es auf die Dauer schädigen und schließlich töten. Und Kälte könnte den Heilungsprozess sehr beschleunigen.«
»Hm«, machte Sucherin, »vielleicht können wir etwas zusammenbasteln, das zumindest einen Teil des Verstecks in einen kälteren Zustand versetzt.«
»Dann wird es ja noch enger für uns«, gab ich zu bedenken.
»Ja, wir müssen uns schnell nach was anderem umsehen. Hier können wir nicht einmal zu dritt liegen.«
»Wie gut, dass wenigstens wir keinen Platz wegnehmen«, gab ein Helfer seinen Senf dazu.
»Ich hab schon verstanden«, sagte ich resigniert. »Ich muss nach draußen und einen Unterschlupf suchen. Aber erst mal will ich etwas essen und trinken, sonst tragen mich meine Füße keine 10 Schritte.«
Sucherin kramte ein Stück farbloser Kaumasse hervor. Igitt, dachte ich, aber unsere Raumfahrer-Nahrung hatte ja in schlechten Zeiten auch so ausgesehen.
»Außerdem hab ich hier noch eine Menge Geld«, verriet Sucherin. »Du kannst ja mal sehen, ob es noch etwas wert ist.«
Als Beobachter musste sie damals gut ausgerüstet gewesen sein, ging es mir durch den Kopf. Auch die Luftzufuhr schien ständig frisch zu sein. Die Geldscheine allerdings waren mindestens 10 Jahre alt und schon damals hatten die meisten Leute per Kreditkarte bezahlt. Vielleicht gab es gar kein Bargeld mehr.
Gemeinsam überlegten Sucherin und die Helfer, was sie noch für ihre Kühlkammer brauchten, und insgeheim nahm ich mir vor, auch noch richtige Lebensmittel einzukaufen, wenn alles klappte. Ich hatte jedenfalls nicht vor, ewig von Konzentraten und Wasser zu leben.
Dann machte ich mich daran, mein Äußeres so gut es ging zu verändern. Sie mochten zwar veraltete Fahndungsfotos haben, aber eventuell hatten sie uns auf der Raumstation heimlich fotografiert. Bart und lange Haare mussten also ab. Es war etwas mühselig ohne Rasierer und kurze Stoppeln blieben zurück. Hauptsache, sie hatten hier nicht das Markensystem von den Südlichen Inseln eingeführt, dann hatte ich keine Chance.
Nachdem Sucherin und ich dann mit Essen fertig waren, entschied ich mich, sofort aufzubrechen. Es hatte keinen Sinn, es noch weiter hinauszuschieben. Einerseits hatte ich verteufelte Angst, weil ich nicht einschätzen konnte, was auf mich zukam, andererseits drängte es mich, dieses neue Neu—Ing kennenzulernen. Ich hoffte, dass ich mich noch zurecht fand. So sehr konnte es sich ja nicht verändert haben. Und wer weiß, vielleicht traf ich sogar alte Bekannte.
»Eines ist mir noch unklar: Wie komme ich hier rein und raus?« fragte ich Sucherin. »Ein Schlüssel tut’s ja wohl nicht.«
»Das ist nicht so schwierig. Ich kann Personen auf kurze Entfernung mit einiger Mühe per Nullschritt versetzen. Ich werde auch rechtzeitig merken, wenn du dich dem Versteck näherst, und kann dich dann reinholen.«
»Bei dir muss ich wohl immer auf Überraschungen gefasst sein«, sagte ich kurz. Meine Stimme klang etwas zittrig in Erwartung dessen, was mir in Neu-Ing alles bevorstehen mochte.
Sucherin umarmte mich heftig. »Also, mach’s gut. Und bleib nicht zu lange weg.«
Ich versprach es ihr. Dann konzentrierte sie sich, und von einer Sekunde zur anderen stand ich im Freien.
Sie hatte gut gezielt , denn ich befand mich hinter ein paar Büschen, die die Sicht von der Straße versperrten. Es schien aber auch jetzt nicht viel dort los zu sein, und so konnte ich ungehindert hervorschlüpfen.
Mir wurde schnell klar, dass ich mich in einem der äußeren Bezirke von Neu-Ing aufhielt. Ich kannte diese Ecke nicht, es war aber ein hingeklotztes Neubauviertel. Nicht weit von hier musste schon die öde Steinwüste des unbewohnten Gebietes beginnen.
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