»Wo ist Ann?«
»Welche Ann?«
»Unsere Tochter.«
»Wir haben eine Tochter, die so heißt?«
»In der Tat. Übrigens, hast du gewusst, dass es außer Blindenhunden auch Hunde für Magersüchtige gibt?«
»Wie meinst du das, Philip?«
»Die Hunde essen anstelle der Magersüchtigen.«
Mrs Lockhart schüttelte sich vor Lachen. »Genug! Du musst aufhören mit deinen Bonmots, sonst platze ich noch. Politisch korrekt war das auch nicht.«
»Verrätst du mir, wo sich unsere Tochter und Catriona befinden?«
»Das weißt du doch. Ann ist mit der Kleinen davongelaufen, vermutlich, um die Welt zu verbessern.«
»Oha«, sagte Alberto und erhielt dafür von Mrs Craig einen kräftigen Knuff. Ängstlich sah er zu ihr auf. Vor herrischen Frauenzimmern hatte er große Ehrfurcht, erinnerten sie ihn doch sehr an seine Großmutter im Friaul.
»Hilfst du meinem Gedächtnis bitte auf die Sprünge und verrätst mir wohin?«
»Er hat ihr wohl einen Floh ins Ohr gesetzt.«
MacDonald sah fragend zu Mrs Craig. Ihre Lippen formten stumm das Wort Vater.
»Ich wusste gar nicht, dass die beiden wieder Kontakt haben.«
»Euch Männern entgeht so manches.«
»Von mir aus! Was ist es denn nun?«
»Sie will sich selbst finden.«
»Well, wollen wir das nicht alle?«
»Du erscheinst mir heute so gar nicht authentisch.« Mrs Lockhart hielt sich den Zeigefinger vor den Mund und winkte ihren Gatten zu sich heran. MacDonald kniete sich behutsam vor ihren Sessel. Es wäre spannend gewesen, auf einem Monitor die Zeitlupenaufnahme eines Erdrutsches daneben zu stellen. Alberto und Mrs Craig rückten in einem stillschweigenden Waffenstillstand ein Stück auf: Von dem, was Mrs Lockhart flüsterte, bekamen sie dennoch nichts mit. »Mein lieber Philip. Auch wenn du es nicht wahrhaben möchtest, du und Ann seid euch sehr ähnlich.« MacDonald wollte etwas fragen, doch Mrs Lockhart legte ihm den Finger auf den Mund. »Ailsa, wo bist du?«, rief sie mit königlich-autoritärer Stimme.
Mrs Craig trat einen Schritt nach vorne. »Hier, Mam! Was kann ich tun für Sie?«
»Machen Sie bitte meinem Gatten deutlich, dass ich mich an das rote Köfferchen mit den politischen Angelegenheiten machen muss. Es ist hohe Zeit. Wir wissen alle, dass es ihm ein Dorn im Auge ist. Doch Pflichten sind nun einmal Pflichten.«
»Aber Lilibet, wir haben uns doch gerade so gut unterhalten. Apropos, wo wohnt Ann denn gegenwärtig?«
Mrs Lockhart hatte sich geistig bereits in den wichtigsten Teil ihrer fiktiven Welt begeben.
»Haben Sie nicht gehört? Ihre Gattin hat keine Zeit mehr!«
MacDonald bemerkte, dass das Köfferchen auch Fotografien enthielt. Lächelnd nahm er ihr eine Aufnahme aus den Händen, von der er hoffte, dass sie Ann, ihre kleine Tochter und Paul zeigte. Mrs Lockhart betrachtete ihn mit gespielter Entrüstung, sagte aber nichts.
»Die Herren folgen mir!«, befahl Mrs Craig, die ihm bereits den Rücken zugekehrt hatte.
MacDonald steckte das Foto in die Innentasche seines Jacketts, ergriff sein eigenes Köfferchen und verließ das Zimmer.
Alberto folgte ihm verdutzt. »Angus, du bist ohne ein Wort der Verabschiedung gegangen«, sagte er auf der Treppe. »Das war nicht sehr höflich.«
»War es nicht, das stimmt. Aber authentisch.«
»Prego?«
»Prinz Philip durfte in den über sechs Jahrzehnten seiner Ehe noch niemals etwas aus dem berühmten roten Köfferchen sehen. Das wurmt ihn gewaltig. Auch er hätte seine Gattin also beleidigt verlassen.«
»Was du alles weißt.«
Im Erdgeschoss mobilisierte Mrs Craig zusätzliche Gesichtsfalten. »Ich wünsche den Herren einen geruhsamen Tag. Adieu.«
»Nur eines noch. Sie müssen uns bitte sagen, wo wir diesen Herrn Sangster finden.«
»Völlig unmöglich.«
»Erklären Sie sich bitte.«
»Ich kann nicht hinweg über den Kopf von Mrs Lockhart entscheiden.«
»Es leuchtet Ihnen aber ein, dass wir ihre Tochter und ihre Enkeltochter finden wollen?«
»Bin ich ja in der Zwischenzeit nicht auf den Kopf gefallen. Doch nur weil Mrs Lockhart kurzzeitig der Verstand abhandengekommen ist, breche ich mein Versprechen nicht. Früher einmal hat sie mir gesagt, dass ich niemandem etwas über Paul verraten darf. Fürderhin, wenn Sie Major Lockhart kennen würden, wüssten Sie auch, wo Ann wohnt.«
MacDonald zog das Foto aus der Tasche. »Sind das Ann, Catriona und Paul?«
»Ja. Und die Aufnahme bleibt im Haus.«
»Da bin ich anderer Meinung. Komm, Alberto, wir gehen.«
Vor der Tür echauffierte MacDonald sich weiter. »Ich verstehe überhaupt nicht, was in die Frau gefahren ist.«
»Mich hat mehr verblüfft, dass sie sich in dem Haus so gut auskennt. Ganz zu schweigen von ihrem fürchterlichen Rassismus. Noch etwas sage ich: mäh!«
»Du bist eine Ziege?«
»Nein, aber sie. Ailsa Craig heißt auch ein Ziegenkäse aus Dunlop.«
»Ich weiß.«
»Aber du hast es nicht erwähnt.«
»Meinst du, man kann einer Dame damit schmeicheln, dass sie wie ein Ziegenkäse heißt?«
»Wenn er gut schmeckt, vielleicht schon.« Alberto ging zielstrebig zum nächsten Haus und klingelte. Eine Frau in mittleren Jahren öffnete die Tür, in einer Hand den »Scotsman«, in der anderen die Lesebrille. »Einen wunderschönen guten Tag, die Dame. Wir sind Freunde Major Lockharts und möchten Sie etwas fragen.«
»Freunde vom Major, sagen Sie?«
Alberto nickte verbindlich.
»Sie stammen aber nicht aus Edinburgh, oder?«
Als die Frau MacDonalds Kilt bemerkte, fasste sie etwas mehr Vertrauen. Angus legte Alberto väterlich den Arm auf die Schulter. »Gnädigste, können Sie uns vielleicht sagen, wo wir Paul Sangster finden?«
»An Ihrer Stelle würde ich es mal in Morningside versuchen.«
»Ist der Herr betucht?«
»Eher das Gegenteil. Er verkauft dort sein Magazin.«
»Und wie heißt es?«
»The Big Issue.«
»So einer ist das also!«, sagte Alberto entrüstet. »Jetzt wundert mich überhaupt nichts mehr.«
Guiseppe Coia hatte sich einen doppelten Grappa eingeschenkt. So einen Tumult wie da draußen vor seinem Geschäft in der Victoria Street hatte er noch nie erlebt. Er führte den Familienbetrieb bereits in der dritten Generation. Sein Großvater wanderte 1931 nach Edinburgh aus und setzte damit einen Exodus fort, der in den 1890er Jahren begann. Damals schnürten die ersten Familien ihr Bündel, um der Armut zu entkommen. Viele von ihnen eröffneten Restaurants oder Eiscreme-Salons. Manche spezialisierten sich auf Fish and Chips Shops, in Edinburgh Chippies genannt. Auch die Coias fanden so ihren Weg ins hiesige Geschäftsleben. Es war nicht allzu kostspielig. Alles, was sie außer den Räumlichkeiten benötigten, waren eine schwarze Eisenpfanne und frischen Fisch, den sie täglich auf dem Markt kauften. Die Coias besaßen noch immer zwei Chippies. Doch bereits vor Jahrzehnten hatten sie in der Old Town in bester Lage zusätzlich ihr Delikatessen-Geschäft eröffnet und damit zunächst die italienische Gemeinschaft der Stadt erfreut. Heute führten sie auch internationale Lebensmittel und Weine und belieferten das gesamte Vereinigte Königreich. Lebte ein Brite nicht im hintersten Winkel des Landes, wurde er am nächsten Werktag beliefert. Eine Garantie, die auf stolze 90 Prozent der Kunden zutraf. Das Geschäft florierte und seitdem seine Tochter eingestiegen war, konnte der Senior sogar an den Ruhestand denken. Der Ärger begann zwei Tage zuvor, als dieser merkwürdige Mann im dunklen Anzug und mit seiner albernen Geheimdienst-Sonnenbrille das Geschäft betrat. Spazierte vor und zurück. Wie ein Geldeintreiber sah er nicht aus, war weder Schotte noch Italiener. Was also wollte der hässliche Vogel? Irgendwann wurde es Coia zu dumm und er stellte ihn zur Rede. »Kann man Ihnen helfen, mein Herr!«
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