Das Klosett war in einer kleinen Rumpelkammer auf dem Flur untergebracht. Irgendwas stimmte nicht mit dem Licht, deshalb steckte er eine Kerze auf das Sims. Der Benutzer hatte nun die Wahl: entweder ließ er die Tür zum Flur auf, machte sich die Kerze an oder entleerte sich im Dunkeln. Der Wassertank gurgelte und spuckte vierundzwanzig Stunden am Tag. Kakerlaken fühlten sich magisch angezogen von dem Ort, es wimmelte nur so von ihnen. Die anfänglichen Versuche, das Klo von ihnen zu befreien, gab er schnell auf, sodass sich fortan all seine Freunde, sogar die hartgesottensten, davor ekelten, die Klobrille auch nur mit dem kleinsten Fetzen nackter Haut zu berühren.
Etwa eine dreiviertel Stunde nachdem Miete und Kaution bezahlt waren, zog Sam ein. Seine Besitztümer hielten sich in Grenzen: eine kleine silberne Wasserpfeife — äußerst hip im Jahre 1961 — sechzehn Kartons mit Büchern, eine Schreibmaschine, ein Koffer voller Klamotten, ein kleiner Speed-O-Print- Matrizendrucker mit offener Walze, eine alte Milchkanne mit Druckerfarbe, Zeichenmaterial und ein Stapel von seinem Gedichtmagazin The Shriek of Revolution .
Auf dem Fußboden lagen acht Schichten Linoleum übereinander. Er hackte sie los und karrte sie bündelweise weg. Der blanke Fußboden sah nicht so aus, als wäre er je gestrichen oder lackiert worden und bestand aus purem Holz. Er überlegte eine Weile, ob er ihn einfach so lassen sollte, wie er jetzt war. Da ihm aber beim Streichen von Decke und Wänden ziemlich viel Farbe auf die Erde gekleckert war, hielt er es am Ende doch für das Beste, ihn gleich mitzustreichen.
Er renovierte also das ganze Apartment: Fußboden, Decke, Wände und Türen wurden schwarz, bis auf eine Wand. Die tünchte er weiß, um sie später mit Wandgemälden zu verzieren. Das Wohnzimmer strahlte in knalligem Orange, als er die Wohnung mietete. Die alten Mauern waren übersät von Buckeln, Rissen und Furchen, die er beim Streichen einfach orange ließ. Danach hatte er diese irren, abstrakten roten Linien und Muster drin, die sich über die schwarze Fläche verteilten, Mannomann! In den nächsten Monaten verbrachte er viele Stunden vor der weißen Wand im anderen Zimmer und pinselte sorgfältig und geduldig bunte Keilschriftstrophen sumerischer Poesie drauf, die er sich am College angeeignet hatte.
Das war die Zeit, als die Lower East Side sich noch jeden Mittwochabend in ein kostenloses Warenhaus verwandelte. Einmal die Woche schafften alle Bewohner ihre alten Möbel, Küchenschränke, kaputten Fernseher, zusammengerollten und verschnürten Matratzen et cetera auf die Straße, wo der Sperrmüll sie am nächsten Morgen abholte. Manchmal, wenn ein Rentner ohne Familienanhang verstorben war, türmten sich auf dem Bürgersteig vor seinem Haus Kisten voll alter Klamotten, Büchertruhen, Lampen, Geschirr und dem ganzen Schmand einer fünfzigjährigen East-Side-Existenz. Dann brach das reinste Chaos aus. Es war, als ob einer Geld aus dem Fenster geworfen hätte. Kalte Schauer liefen den Anwohnern den Rücken hinunter, wenn sie ein Sporthemd aus Honolulu oder ein Photoalbum aus dem Jahre 1923 aus einem der alten Koffer fischten.
An seinem ersten Mittwochabend zog Sam los und fand prompt eine alte Sperrholzkiste aus Japan samt Deckel, die er nach Hause schleppte, schwarz anmalte und fortan als Küchentisch seiner neuen Behausung betrachtete. Manche Sachen musste er aber auch kaufen. Zu den derart erstandenen Errungenschaften gehörte eine drei Mal drei Meter große Bambusmatte, die am Rand mit schwarzem Baumwollstoff eingefasst war. Sie diente als Freudenteppich im Wohnzimmer. Sitzkisten bastelte er sich aus alten Sofas zusammen, die er auf der Straße fand. Eine kleinere Bambusmatte hängte er in die Türöffnung zwischen die beiden Zimmer. Von ihrer unteren Kante führte eine Strippe nach oben und durch einen Haken im oberen Türrahmen, sodass der Bambusvorhang sich durch einfaches Ziehen an der Strippe nach Belieben heben oder senken ließ.
Eines Abends strich Sam durch die kleinen Straßen seiner Nachbarschaft und suchte nach einer neuen Matratze. Es war wirklich ein mieser Tag für Schnorrer. Schließlich stöberte er ein vergammeltes Exemplar auf, das wie eine Roulade mit einer Schnur zusammengebunden war und an einer Mülltonne auf der Ecke Neunte Straße und Avenue C lehnte.
Das erste, was zu tun war, um eine kostenlose Straßenmatratze auszuchecken, war rauszukriegen, warum der Eigentümer sie loswerden wollte. Sam inspizierte das Ding. Sogar für geschenkt war es ein ziemlich erbärmliches Exemplar. Erstens hatten die Vorbesitzer mit Sicherheit nicht zu den Enthaltsamsten gehört, wie mehrere kalkige Fleckenspuren in der Mitte verrieten. Als er sie aber einem gründlichen Haltbarkeits- bzw. Sprungtest unterworfen hatte, machte sie doch wenigstens einen ziemlich festen Eindruck. Seiner Nase kam sie auch nicht besonders anrüchig vor und weder obendrauf noch innen drin konnte er irgendwelche Anzeichen für Läuse, Zecken, Flöhe oder Kakerlaken entdecken. Nachdem er sich dessen vergewissert hatte, packte er sich das Ding auf den Buckel und schwankte Richtung Elfter Straße zurück in sein Apartment.
Sams Küchengeschirr bestand aus zwei großen Holzschalen, zwei chinesischen Suppenlöffeln, zwei Gläsern, einem Dosenöffner, einem Messer und ein paar Töpfen. Kurz, nachdem er eingezogen war, stellte ihm das Elektrizitätswerk Licht und Strom ab und informierte ihn darüber, dass er ohne Hinterlegung einer Kaution leider auf den Service von Con-Ed verzichten müsse. Er beschloss, es durchzustehen, kaufte sich statt dessen Kerzen und lebte ein ganzes Jahr lang glücklich und ohne Strom.
An dem Tag, als Con-Ed ihm das Licht abdrehte, hatte er sich zum Lunch einen Topf Broccoli gekocht und davon Sandwiches mit Erdnussbutter gemacht. Das übriggebliebene Gemüse stellte er in den ratternden Kühlschrank, wo es innerhalb der nächsten elf Monate langsam vor sich hin faulte. Wenn jemand aus Versehen die Kühlschranktür aufmachte, kriegte er das große Kotzen. Kein Gestank, der je erfunden wurde, konnte es mit diesen stinkigen Schwaden der Verwesung aus Tales from the Crypt aufnehmen, die einem in die Nase stiegen, wenn man die Tür auch nur einen Spaltbreit aufmachte. Schon bei der bloßen Erinnerung wird es meinen Gehirnzellen speiübel.
Nachdem sein Herd also nicht mehr funktionstüchtig war, gewöhnte Sam sich an rohes Gemüse und kalten Büchsenfraß. Aus geheimnisvollen Gründen erfand er nach ein paar Tagen eine merkwürdige Komposition namens Yum. Monatelang lebte er von einer exklusiven Diät aus Yum und Vitamin C, abgesehen von gelegentlichen Seitensprüngen ins nahe Odessa- Restaurant, wo er sich Banketten von Piroggen mit saurer Sahne hingab. Und was war Yum ? Ganz einfach! Zuerst kippte er eine trockene fünf Zentimeter dicke Schicht Haferflocken in seine Holzschale. Darüber kamen zwei Löffel Hellmann’s Mayonnaise und ein paar großzügige Spritzer Sojasauce. Über diesen köstlichen Boden gab er zwei frische Eier und verrührte dann das Ganze zu einer beige-gelblichen Pampe. Das war Yum! Mal probieren?
Elf glückliche Monate lang ernährte er sich Tag für Tag von Yum, von dem Tag an, wo er den Topf mit Broccoli in seinem unbrauchbaren Kühlschrank deponiert hatte, bis Ende 1962. Es machte ihm nicht im geringsten was aus, seine Yum- Schüssel mit Besuchern zu teilen, wenn sie zufällig grade zur Essenszeit vorbeikamen. Man musste allerdings eine gewisse Scheu oder Zurückhaltung konstatieren, was den tatsächlichen Verzehr betraf, wenn der Freund mitgekriegt hatte, wie Verleger Sam seinen feuchten gelben Yum- Brei angemixt hatte.
Der Geist von Yum bestimmte auch sein übriges Leben. Einmal, kurz nach der Sache mit dem Strom, wartete er auf seine kleine blonde Freundin, die die Nacht über bei ihm bleiben wollte. Plötzlich hatte er eine Idee, marschierte zu einem Großhändler drüben in der Houston Street und erstand einen Sack mit fünfundzwanzig Pfund Haferflocken.
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