Endlich brach der Tag an, an dem Newsreel ’84 Premiere hatte. Roy war vor lauter Angst kurz vorm Abschnappen. Der Wassertank auf seinem Klo füllte und entleerte sich mit einer solchen Häufigkeit, dass die Nachbarn sich beschwerten. Claudia dagegen war eine Premiere noch nie so gleichgültig gewesen. Sie hatte sogar verschlafen, während sie normalerweise an einem solchen Tag aus dem Bett sprang wie ein Kind am Weihnachtsmorgen. Sie hatte noch allerhand zu erledigen: Mindestens fünfzig Telefongespräche warteten auf sie, dann musste sie die letzten hysterischen Anfälle von Genius und Kunst überstehen, und die Generalprobe stand auch noch auf dem Programm. Auf ihrem Schreibtisch stapelten sich Stöße von vollgekritzelten Merkzetteln.
Dann brach die Espressomaschine im Foyer zusammen. Die Pasteten wurden nicht rechtzeitig geliefert. Paolo hatte vergessen, die Toiletten zu schrubben. Irgendwer hatte ihr einen Kaugummi in den Telefonhörer geklebt. Mehrere Scheinwerfer am Eingang mussten ausgewechselt werden. Die Kartenschnorrer entwickelten sich zu einer Landplage. Wildfremde Typen, die irgendwann mit irgendwem zusammen auf der Highschool waren, die auch nur im entferntesten was mit der Produktion zu tun hatten, riefen sie an und verlangten Freikarten.
Es gehörte zu Claudias Prinzipien, dass vor einer Premiere das ganze Haus einer gründlichen Säuberungsaktion unterzogen wurde. Ein Grundsatz, an den sie sich aus unerfindlichen Gründen gewöhnt hatte, vielleicht entsprach es ihrer mystischen Natur, eine prärituelle Purifikation sozusagen. Deshalb fand auch an diesem Tag eine Reinigungszeremonie statt, die einem Ziggurat kurz vor Anbruch der Dämmerung noch alle Ehre gemacht hätte.
Das Luminous Animal Theatre war in einem höhlenartigen, feuchten Gebäude aus Ziegelsteinen untergebracht, das vorher als Garage benutzt worden war. Es lag auf der Bowery, Ecke Dritte Straße, vom Cooper Union gleich den Hügel hinunter. Gott nee, was war das für ein Schweinestall gewesen, als sie das Haus übernahm! Zwei Wochen lang hatte ein Team mit ihren fleißigsten Höllensklaven sich damit abgerackert, den ganzen Müll und Dreck wegzuschaffen, und dann hatten sie noch mal zwei Wochen lang damit zu tun gehabt, das Dach zu teeren und das Gebäude zu streichen, außen blau und innen schwarz.
Ein Großteil des Geldes, das sie damals hatte auftreiben können, war für eine erstklassige Bühne draufgegangen, die so ziemlich alles aushalten konnte und sich circa fünfundzwanzig Meter über die ganze hintere Wand der Garage erstreckte. Daneben lagen ein paar Sperrholzgarderoben für die Schauspieler und das Foyer. Ein großer leerer Raum wurde mit Hilfe von schwarzen Leinenvorhängen zur künstlerischen Abteilung umfunktioniert. Es beherbergte das Luminous-Animal -Archiv, Tischlerbänke, Schränke voller Kulissen und Kostüme, einen alten A.B. Dick -Matrizendrucker und die abgeschraubten Einzelteile der Siebdruckanlage. Sogar eine kleine Dunkelkammer hatte hier noch Platz gefunden.
Für das Publikum stand ein Sammelsurium von alten Wohnzimmerstühlen ohne Lehnen, vergammelten Sofas, Sitzkissen und anderen Funden vom Sperrmüll zur Verfügung. Draußen über dem Eingang prangte die drei Meter große Reproduktion eines paläolithischen Gemäldes aus der Höhle von Trois-Frères in den Pyrenäen. Es stellte eine menschliche Figur mit einem Rentierkopf dar, die Claudia zum Symbol für das Luminous Animal erhoben hatte. Abbé Breuil, der als Erster eine Zeichnung dieser Figur veröffentlicht hatte, nannte sie »Der Zauberer«. Darüber konnte Claudia nur die Nase rümpfen. Ihrer Ansicht nach stellte das Wesen einen Hirschtänzer dar und war damit die erste Verkörperung von dramatischer Kunst, das heißt von einem Gottestanz überhaupt.

Dieses Wahrzeichen des Luminous Animal wurde von einer enormen Zahl von Scheinwerfern beleuchtet, die einer von Claudias Freunden eines schönen Tages aus einem Militärlager in Brooklyn hatte mitgehen lassen.
Ausgerechnet diesen hektischen Tag musste sich der Vermieter für seine faulen Tricks aussuchen! Der eigentliche Vermieter war in der ganzen Nachbarschaft nur als Louie der Falsche bekannt. (Mittlerweile hat sich das natürlich geändert — jetzt ist er Soho-Lou, respektabler Kunsthändler und Spekulant in Sachen peruanische Pülverchen.) Kurz, nachdem Claudia den Mietvertrag unterschrieben hatte, kriegte Louie Schwierigkeiten und musste für eine Weile auf Tauchstation gehen; seitdem verhandelte sie mit seinem Bruder Tony.
Zuerst bestand ihr Telefonat aus unverbindlichem Geplauder. »Tja«, meinte Tony, »sieht ja ganz so aus, als kriegten Sie für Ihre neue Show ziemlich viel Zulauf ...«
»Ach, das wird sich erst heute Abend rausstellen«, antwortete sie. »Gut möglich, dass die Kritiken die Schickeria diesmal abhalten. Oder sie schreiben gar nichts, was noch schlimmer wäre!«
»Tja wissen Sie, ich hab mich da neulich mit meiner Frau drüber unterhalten. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass für uns als Eigentümer des Gebäudes doch eigentlich ein kleiner Prozentsatz vom Umsatz rausspringen müsste, zusätzlich zur Miete, versteht sich!«
»Das ist ja wohl nicht Ihr Ernst!« Mitten im Satz kippte ihre Stimme in einen schrillen Misston um.
»Na ja, ich hab eben die Zeitung gelesen. Das Stück wird wohl einigen Wirbel machen ... und ich könnte eventuell Ärger kriegen, bei all dem Hin und Her. Es, äh, es könnte meinen Geschäften schaden, Sie verstehen mich?«
Claudia war außer sich. »Jetzt passen Sie mal gut auf, Tony! Sie erwarten doch wohl nicht, dass ich bei ihren Wucherspielchen mitmache. Wir haben einen fairen Mietpreis vereinbart, und ich habe auch noch dreitausend Dollar aus dem Fenster geworfen, um dieses heruntergekommene, stinkige Drecknest wieder auf Vordermann zu bringen! Ihre miesen Pläne können Sie sich aus dem Kopf schlagen, tut mir leid!« — »Nun, dann drücken wir’s doch mal ein bisschen anders aus, Süße: Louie ist wieder da. Und er will seine Garage zurück. Er will wieder ins Gebrauchtwagengeschäft einsteigen!«
»Lackiergeschäft meinen Sie wohl!«, unterbrach sie ihn verächtlich. »Damit können Sie mir doch nicht drohen!«
»So? Na, an wen wollen Sie sich denn wenden, an den Bürgermeister etwa?« Er lachte hämisch. »Wenn ihrem Taj Mahal da drüben irgendwas passiert, ist das jedenfalls nicht meine Schuld. Hoffentlich sind Sie auch gut versichert!«
Als sie den Hörer auf die Gabel knallte, zitterte sie vor Wut. Aber zum Glück brachte das Geschnatter ringsum sie schnell wieder zur Besinnung. Als sie zur Bühne gerufen wurde, um die Reparatur am Thron von Lord High Chopper zu beaufsichtigen, war Tony der Gangster im Nu vergessen.

Normalerweise blieb Claudia am Abend vor der Premiere im Theater, doch diesmal wich sie von ihrer Gewohnheit ab und verabredete sich mit Ron Lawler zum Essen. Lawler war ihr wichtigster Mäzen und ein elegantes Uptown-Restaurant genau der richtige Rahmen, um eine heikle Angelegenheit zur Sprache zu bringen. Sie hatte sich vorgenommen, ihn zur Finanzierung ihrer neuen Produktion zu überreden, noch ehe das Schicksal von Newsreel ’84 besiegelt war.
Und das war keine leichte Sache. Lawler, Börsenspekulant und nebenberuflich als Direktor eines florierenden Verlages tätig, glaubte strikt an das Elfte Gebot: Du sollst, oh Ronald, nie vergessen, Gewinn aus deinen Investitionen herauszuholen! Bisher war dieser Glaube auch noch nie erschüttert worden, obwohl er sich mit dem Theater nur eingelassen hatte, um ein paar gut aussehende Weiber aufzureißen. Das heißt, er hatte sich auf Off-Broadway -Schauspielerinnen spezialisiert, so wie andere Gangster Tingeltangelschönheiten oder Schnulzensängerinnen zu finanzieren pflegten. Aber auf das Geld passte er auf wie ein Luchs. Er war skrupellos, gerissen und geil — allerdings nur in seiner Fantasie, denn nicht mal die tägliche Ration an Wodka-Cocktails mit einer halben Tasse Vitamin E konnten seinen Schwengel noch zum Schwingen bringen. Insgeheim bildete er sich auch noch ein, eine durchaus positive, wenn nicht revolutionäre Rolle im amerikanischen Theater zu spielen. Er hielte sich für einen »göttlichen Liberalen«, ganz im Sinne der englischen Tradition des Neunzehnten Jahrhunderts. Dabei war er Schatzmeister bei mehreren Kulturfonds und drückte sich auf diese Tour davor, in die eigene Tasche greifen zu müssen.
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