Während des gesamten Stückes verfolgte Staatsanwalt Mynah die Vorgänge auf der Bühne mit glasigen Augen. Das Theater platzte aus allen Nähten. Jedes wackelige Sofa, selbst die mieseste Obstkiste war besetzt. Mehrere Male unterbrach frenetischer Beifall den Ablauf des Stückes. Ganz zu schweigen von all den Zuschauern, denen glatt die Luft wegblieb, als die Flaggen tatsächlich in Flammen aufgingen und Claudia mit dem Priester ihre geilen Tänzchen vollführte.
Sobald der Vorhang fiel, setzte sich unser stellvertretender Staatsanwalt in Bewegung, raste wie ein Schiedsrichter hinter die Bühne, zauberte einen kleinen Besen aus seiner Gesäßtasche und fegte die verkohlten Flaggenreste in eine Papiertüte. »Wenn sich rausstellen sollte, dass das hier eine amtlich anerkannte amerikanische Fahne war, könnt ihr euch auf was gefasst machen!«, meinte er hämisch und überreichte dabei Claudia seine Karte. Die stand da und wartete darauf, dass der Vorgang für ihre letzte Verbeugung hochging.
Roy stoppte auf seiner Armbanduhr, wie das Publikum vier Minuten und sechsunddreißig Sekunden trampelte und applaudierte. Die Kritiker waren aus dem Häuschen. Als Claudia Roy in den Kulissen entdeckte, rannte sie auf ihn zu und fiel ihm um den Hals: »Meine Güte, es wird ein Hit!«
»Hab ich doch gleich gesagt — ich hab’s doch gesagt!« Roy hüpfte begeistert von einem Bein auf das andere und schwenkte seine Champagnerflasche auf und ab. Er trug einen Smoking und eine gepunktete Fliege. Roy war immer noch nebenberuflich als Hausmeister in seinem Apartment tätig, und als er heute Abend die Wohnung verließ, hatte er noch schnell seine Arbeitshandschuhe übergestreift und die Mülltonnen aus dem Keller auf den Bürgersteig gerollt. Dann hatte er die Handschuhe gedankenverloren in die Smokingtaschen gestopft, und als er jetzt den Champagner entkorkte, merkte er, wie die blöden Dinger aus den Taschen hervorlugten, und brachte sie schnell außer Sichtweite. »Diesmal haben wir’s gepackt! Wir sind die Größten!« schrie er.
Claudia bahnte sich derweil einen Weg durch die Menge in ihre Garderobe, wo sie erschöpft zusammenbrach. Dann zerrte sie plötzlich ihre Aufzeichnungen aus der Schreibtischschublade und platzierte alle Merkzettel für Newsreel ’84 ganz nach oben. »Tanz, Aischylos, tanz!«, sang sie fröhlich. Da klopfte es.
Es war der bedeutendste Theaterkritiker der westlichen Hemisphäre — ein notorischer Weiberheld, Alkoholiker, Kokser, Abschreiber und nebenbei der Autor zahlloser unter einem Pseudonym erschienener Ace-Book- Thriller. Obendrein war er manisch-depressiv. Aber eine einzige starke Zeile von ihm mit drei happigen Adjektiven drin war mehr wert als hundert Riesen!
»Miss Pred? Mein Name ist Milton Clark. Sind wir uns nicht bei der Stanislav-Premiere schon einmal begegnet? Also, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr mich Ihre Vorstellung in diesem reizenden Theater bezaubert hat. Ich wollte fragen, ob Sie vielleicht ein paar Minuten erübrigen können ... für ein Interview über das Luminous Animal Theatre und die Produktion. Leider muss ich es ganz rasch abliefern. Aber ich habe meine Schreibmaschine dabei, das heißt, sie steht oben im Plaza. Außerdem ist bei Bertolucci eine kleine Privatnische für uns reserviert, wo wir ganz ungestört reden können. Wenn Sie mir also die Freude machen und mich zu einem späten Abendessen begleiten würden ...? Dann könnte ich ...«
»Aber selbstverständlich!« strahlte Claudia. »Ich muss nur schnell unter die Dusche. Und dafür sorgen, dass alles wieder in Ordnung kommt!«

Paolo stand nicht weit vom Eingang mitten in einer Schar von Freunden, als sie aus der Garderobe kam. Sie mischte sich unter sie, um sie zu begrüßen. Er starrte auf ihren Mantel. »Tanzen wir heut Abend nicht?«, fragte er nach einer Weile.
»Nein, Liebling, heute nicht.« Sie umarmte ihn. »Du hast ja die Schlüssel. Warte hier auf mich. In ein paar Stunden bin ich wieder da.«
Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und rauschte aus dem Foyer. Der Kritiker legte ihr den Arm um die Schultern. Paolo schlenderte zurück und ballerte einen ihrer goldenen Slipper gegen die Garderobentür.
Als alle weg waren und er den staubigen Fußboden gefegt hatte, schaltete er die Bühnenbeleuchtung ein. Wütend stampfte er auf und ab und dribbelte dabei seinen Basketball vor sich her. Plötzlich schleuderte er ihn mit aller Macht in das Durcheinander von Stühlen. Er tanzte, allein, machte seine Sprünge und wirbelte über die Bühne. Schließlich schmiss er seine Turnschuhe in die nächste Ecke. Dann sein Hemd und die Jeans. Flog herum. Seine Beine schienen sehr lang und dünn — bis auf die Oberschenkel, das waren die reinsten Muskelpakete. Schwarze Haarsträhnen fielen ihm ins Gesicht. Er trainierte Rückstöße, sprang nach imaginären Schüssen und wälzte sich über die Bühne, bis Rücken und Arsch voller grauer Schmutzstriemen waren.
Dann ging er in Claudias Garderobe und wartete.
Er mietete das Zweizimmerapartment Nr. 521 an der Elften Straße im Dezember 1961 für fünfundsechzig Dollar im Monat. Es lag im zweiten Stock. Ein Raum war eine Kombination von Küche und Wohnzimmer und der andere war offenbar als Schlafzimmer gedacht. Eingebaute Schränke gab es nicht, stattdessen hatte jemand einen fünfzackigen Kleiderhaken in die Schlafzimmerwand genagelt. Die beiden winzigen Zimmer waren an der Decke mit massiven, circa fünfzehn Zentimeter großen Metallstücken verkleidet, auf deren Oberfläche blätterähnliche Muster eingestanzt waren.
Die beiden Wohnzimmerfenster gaben den Blick auf eine rostige Feuerleiter frei. Sie endete in einem Hinterhof mit kreuz und quer gespannten Wäscheleinen und nassen Kleidern, die völlig versaut waren vom Auswurf des Satans, den Schornsteinen der Consolidated Edison , die nur ein paar Blocks weiter in den Himmel rotzten. An manchen Tagen wachte er auf und zog sich eine schwarze Kruste aus der Nase.
Tagsüber, nachts, am frühen Morgen schwebte vom Hinterhof spanische Musik in sein Fenster. Irgendwer in der Nähe musste einen Pfau halten, ab und zu hörte er dessen schwaches baaa . Auf dem Dach des gegenüberliegenden Hauses stand ein fünfreihiger Taubenschlag, der angeblich eine Familie aus dem Haus mit Nahrung versorgte. Der Hausmeister schwor jedoch hoch und heilig, die Vögel würden in ein Restaurant unten in Chinatown geschafft und dort zu Hühnerfrikassee verarbeitet.
Das Hinter- oder Schlafzimmer hatte nur ein Fenster, das allerdings versiegelt und mit unzähligen Schichten von Lichtschutzfarbe verkleistert war. Als er das Fenster aufgestemmt hatte, wusste er auch, warum. Sein Blick fiel auf eine massive, grauverputzte Mauer aus Backsteinen in etwa anderthalb Metern Entfernung, die sich über einem wilden Durcheinander von Schotter, Abfall und allem möglichen Mist erhob. In der East Side war es üblich, die vollen Müllsäcke einfach aus dem Fenster zu kippen.
Wie viele dieser Absteigen in New York hatte auch diese hier eine Durchreiche zwischen Küche und sogenanntem Schlafzimmer. Nach jahrelanger Überpinselung war die Scheibe total zugekleistert. Im Moment schimmerte sie in einem satten Avocadogrün. Der Kühlschrank stammte definitiv aus frühester amerikanischer Produktion und kriegte jedes Mal einen Schüttelanfall, wenn der Motor den Kühlmechanismus ankurbeln sollte. Die Tür fühlte sich fast genauso kalt an wie das Tiefkühlfach; außerdem hing ein Stück Gummiisolation vom Rand herunter und war schuld daran, dass sie nicht richtig schloss. Neben dem Kühlschrank war ein niedriger Spülstein installiert, dessen Größe die Annahme nahelegte, dass man ihn vor Urzeiten mal als Waschzuber benutzt haben musste. Direkt daneben stand die Badewanne mit einer abnehmbaren, porzellanüberzogenen Metallverkleidung. Oben an der Wand hingen die Küchenschränke. Ihre verzogenen Türen kriegte er nie richtig zu, und innen drin stank es nach einer grässlichen Mischung aus vergammelten Wachstüchern, massenhaft Kakerlakeneiern, Reiskörnern, die die Viecher angefressen hatten, Resten von gemahlenem Kaffee und einer schmierigen Rußschicht.
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