Das Bild war fertig und blieb stehen, und ich hörte ihren Atem, weil es sehr schnell passiert war.
Ein geringer Teil war zu sehen; was sich im Fenster abzeichnete, ein Schimmer an der Schulter, ein Glanz auf den Oberschenkeln. Der größere Teil des Bildes lag im Dunkeln. Ich stellte mir vor, was darauf zu sehen war.
»Es heißt Abschied«, sagte ich, als ich wieder sprechen konnte und einen Blick auf die Leuchtziffern meiner Armbanduhr getan hatte.
Es war Zeit für mich, das Gebiet der DDR wieder zu verlassen, wenn wir keinen Ärger riskieren wollten.
Wir zogen uns an, schlichen hinaus und über den Feldweg gingen wir langsam auf die Lichter der Raststätte zu.
»Weißt du was«, sagte ich, »ich bleibe hier. Die Zigaretten sind gut, das Bier ist gut, und du bist auch nicht schlecht.«
»Hier ist alles nicht schlecht, merk dir das. Aber heiraten müssen wir.«
»Sozialismus, und dann noch heiraten.«
»Du reaktionäres Kapitalistenarschloch.«
Sie schlug mir in den Magen, und es begann eine Rangelei, die auf dem Schotter des Feldwegs endete. Es dauerte eine Weile, bis wir endlich zur Raststätte kamen.
Am Eingang des Restaurants blieben wir stehen, ich wischte ihr etwas Dreck aus dem Gesicht.
»Wir sitzen hier immer, weil sie am längsten geöffnet haben.«
»Trinken wir noch einen Kaffee«, sagte ich und wollte hineingehen.
Sie hielt mich zurück.
»Du kommst nicht mit, ist besser so, ist einfach zu spät und zu leer.«
Wir verabschiedeten uns.
Ich ging über die Brücke zu meinem Wagen auf der anderen Seite der Autobahn. Oben auf der Brücke drehte ich mich unter einer Laterne noch einmal um.
Sie stand immer noch draußen. Wir winkten uns zu und dann ging ich weiter. Es war völlige Stille. Ich stieg in den Wagen, drehte das Fenster herunter und hörte, wie die Tür des Restaurants zufiel.
Als ich zwei Tage später auf der Rückreise in den Westen wieder vorbeikam, räumte die Frau, mit der Anna am Kiosk arbeitete, gerade die an die Bude gelehnten Reklameschilder auf. Anna war nicht zu sehen.
»Ist Anna im Kiosk?«, fragte ich sie, nachdem ich höflich gegrüßt hatte.
»Nein«, sagte sie, ohne mich zu beachten.
»Wo ist sie denn?«
»Weiß ich nicht.«
»War sie nicht hier?«
»Nein.«
»Ist sie krank?«
»Sie hat gekündigt.«
»Was hat sie? Warum hat sie gekündigt?«
»Was geht Sie das an?«, sagte sie und starrte mich misstrauisch an.
Ich drehte mich um und lief ins Dorf. Ich klopfte an die Tür der Baracke, und als sich nicht gleich etwas rührte, schlug ich mit der Faust dagegen, bis ich hörte, dass jemand kam.
Die Haustür ging langsam auf. In dem Spalt, den die Sicherheitskette zuließ, tauchte eine Kopfhälfte ihrer Großmutter auf.
»Guten Tag«, sagte ich, »Sie sind sicher Annas Großmutter.«
»Ja, was wollen Sie?«
Ich nahm mich zusammen, ruhig zu bleiben.
»Ist Anna zu Hause? Ich bin ein Freund von ihr.« »Nein«, sagte sie und wollte die Tür wieder schließen. »Sagen Sie mir bitte, wo sie ist, ich bin ein guter Freund«, sagte ich schnell.
»Sind Sie der Mann aus ...«. Sie deutete mit dem Kopf nach drüben.
»Ja, wo ist sie denn?«
»Anna ist in Ostberlin, soll ich Ihnen ausrichten.« »Aber die Akademie hat sie doch abgelehnt.«
»Nein, sie ist angenommen worden. Hat sie Ihnen das nicht erzählt?«
»Sie hat erzählt, dass sie nicht angenommen worden ist, ich bin mir ganz sicher. Kann ich nicht reinkommen?«
»Die Anna ist angenommen worden.«
»Bitte, Sie müssen es mir sagen, wenn etwas passiert ist. Hat sie Ärger bekommen? Ist sie abgeholt worden?«
»Von wem soll sie denn abgeholt worden sein? Warum denn?«
Ich hätte sie am liebsten angeschrien.
»Weil sie sich mit mir getroffen hat. Sie müssen es mir sagen, dann kann ich ihr helfen, verstehen Sie?«
»Sie ist in Ostberlin. Gehen Sie jetzt, es ist nicht gut, wenn man Sie hier sieht.«
»Sie ist also doch abgeholt worden, weil man sie mit mir gesehen hat! Wo ist sie? Sagen Sie es endlich!«
Ich stieg eine Stufe höher. Sie schlug sofort die Tür zu. »Anna ist nichts passiert, sie ist in Ostberlin! Gehen Sie endlich, es ist nicht gut, wenn man Sie hier sieht!« rief sie durch die Tür.
»Haben Sie ihre Adresse?«
»Nein«, sagte sie, schon am anderen Ende des Flurs.
Ich lief zur Rückseite des Hauses, klopfte an ihr Fenster und rief ihren Namen, aber es zeigte sich niemand. Ich presste mein Gesicht an die Scheibe und sah durch den Vorhang, dass ihr Bücherregal leer war. Ich konnte nichts entdecken, was auf ihre Anwesenheit oder eine Verhaftung hingedeutet hätte.
Langsam ging ich zum Wagen zurück. Ich war verzweifelt. Ich glaubte nichts von alldem.
Ich erinnerte mich an die Kartons, die verschnürt in der Ecke gestanden hatten. Und warum war Anna guter Laune gewesen, das war man nicht, wenn man unbedingt nach Ostberlin an die Akademie wollte und gerade die Ablehnung bekommen hatte. Aber sie war doch nur guter Laune gewesen, weil ich wiedergekommen war. Und sie hatte keinen Grund, mir nicht zu sagen, dass sie nach Ostberlin gehen würde.
Wie unter Schock saß ich im Auto und starrte vor mich hin, bis ein Wagen der Volkspolizei neben mir hielt und der Beamte mich fragte, ob er mir behilflich sein könnte.
»Alles in Ordnung«, sagte ich.
Einige Wochen später, als ich inzwischen noch mehrmals beim Haus ihrer Großmutter gewesen war, in der Hoffnung, Anna dort wieder vorzufinden, und ich außerdem ebenfalls ohne Erfolg in Ostberlin nach ihr geforscht hatte, läutete es gegen neun Uhr morgens bei mir zu Hause in Westdeutschland. Ich riss die Tür auf und hatte einen Ausweis vor der Nase.
Es waren zwei Polizisten in Zivil.
Ich hatte keinen Grund, sie nicht hereinzulassen und hielt es für besser, nicht auf einem Hausdurchsuchungsbefehl zu bestehen.
Noch ehe der ältere Beamte mir die erste Frage stellte, sah er auf dem Tisch eine Schachtel Karo, nahm sie in die Hand, wog sie, als hätte ihr Gewicht eine Bedeutung, musterte mich, und entdeckte das Reklameschild an der Wand, das ich vom Kiosk mitgebracht hatte.
Er las es laut vor.
»Auch das Bier der DDR ist das beste Bier. Braustolz.«
»Stimmt«, sagte ich.
Und dann sagte ich nichts mehr, bis ich einen Anwalt neben mir hatte.
Oft klingt die Wahrheit wie eine Lüge. Wir wissen nicht, ob wir mit dieser unwahrscheinlichen Geschichte durchkommen werden.
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