Franz Dobler - The Boy Named Sue

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Zwischen Country und Free Jazz, Johnny Cash und 39 Clocks und einem Konzert in Dachau, geht es selten um das Abhaken von Aktuellem, aber immer um das Schreiben an sich, als wäre der Musikbericht eine Short Story oder das Kapitel eines Romans. Ein Lesebuch: für alle, die nicht eine Schublade, sondern Musik lieben.
"Ich würde mich in meinen dreckigsten Cowboystiefeln auf den Schminktisch von einem dieser bedeutenden Zeitgenossen stellen und erklären, warum ich mich lieber im Schlamm von Woodstock wälzen würde, als an seinem Arm durch die Hallen Bayreuths bis an den Rand des Orchestergrabens zu wandeln, obwohl mich auch das nicht glücklich machen würde."
Franz Dobler

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Franz Dobler

The Boy Named Sue

Aus den Memoiren eines zerstreuten Musikliebhabers

FUEGO

- Über dieses Buch -

Zwischen Country und Free Jazz, Johnny Cash und 39 Clocks und einem Konzert in Dachau, geht es selten um das Abhaken von Aktuellem, aber immer um das Schreiben an sich, als wäre der Musikbericht eine Short Story oder das Kapitel eines Romans. Ein Lesebuch: für alle, die nicht eine Schublade, sondern Musik lieben.

»Ich würde mich in meinen dreckigsten Cowboystiefeln auf den Schminktisch von einem dieser bedeutenden Zeitgenossen stellen und erklären, warum ich mich lieber im Schlamm von Woodstock wälzen würde, als an seinem Arm durch die Hallen Bayreuths bis an den Rand des Orchestergrabens zu wandeln, obwohl mich auch das nicht glücklich machen würde.«

Franz Dobler

»Er versteht meisterhaft das Spiel mit populären Genres.«

FAZ

»Unangestrengt und pointiert.«

Deutschlandfunk

»Geschrieben wie Kusturica filmt.«

junge Welt

»Seine Geschichten strahlen eine betörende Melancholie aus.«

Der Spiegel

FLUSSAUFWÄRTS Der Plan war mit dem Auto eine Stunde flussaufwärts zu fahren - фото 1

FLUSSAUFWÄRTS

Der Plan war, mit dem Auto eine Stunde flussaufwärts zu fahren. Wenn man’s genau betrachtete, fuhren wir jedoch 35 Jahre flussaufwärts. In die Stadt, aus der ich kam, um nach dem ersten Artikel zu suchen, den ich über Musik geschrieben und veröffentlicht hatte. Zwei Punkte, die mich nachdenklich machten.

Meine Tochter hatte mich einmal darauf hingewiesen, dass ich immer schlechte Laune hätte, wenn wir einen Besuch in meiner alten Heimat machten. Damals war sie ein Kind, und ich hatte das entschieden bestritten und geglaubt, damit durchzukommen.

»Was ist los mit dir?«, fragte mich der Doktor schon nach fünf Minuten.

»Nichts«, sagte ich, »pass lieber auf den Scheißverkehr auf, heute ist kein guter Tag, um zu sterben.«

Und drittens war meine Laune saumäßig, weil ich mich wieder einmal fragte, warum ich es in meinem Leben nicht weiter weg geschafft hatte, als in die Stadt eine Stunde den Fluss runter. Wenn die Stadt eine Stunde den Fluss runter nicht New York oder so ähnlich hieß, war das sicher kein gutes Zeichen. Vor allem, wenn es zu spät war, sich einen anderen Fluss zu suchen.

»Ruhig Blut, wir finden den Artikel«, sagte der Dr.

»Don’t look back, sagt John Lee Hooker«, sagte ich.

»Man kann aber nicht immer auf einen Hooker hören«, sagte der Dr., »es ist wichtig, den Zeitpunkt zu erkennen, wann man eine Regel über den Haufen werfen darf und sogar muss.«

Der Dr. war vier Jahre vor mir in einem Dorf in der Nähe geboren und hatte es immerhin bis an einen See geschafft, den viele als kleines Meer bezeichnen, und er war schon früh ins Musikgeschäft gegangen, hatte gespielt, produziert, organisiert, war in der ganzen Welt damit herumgekommen und konnte bis heute jederzeit mit einem tollen Anruf rechnen. Vor einigen Jahren hat ihm eine sibirische Universität den Dr. Honoris Causa verliehen. Der Dr. hatte seine Fähigkeiten nicht an Universitäten erworben, deshalb war es ihm, abgesehen von der Reise nach Sibirien, egal, ob er sich jetzt Dr.h.c. Hubert Greiner nennen durfte; und außerdem, meinte er, interessiere der Dr.h.c. der sibirischen Universität Jakutsk bei uns doch sowieso keine Sau. Ich jedoch fand’s großartig und zitierte sofort eine Ansage, die Cannonball Adderley während eines Konzerts gemacht hatte und sagte: »Wenn sie dir den Doktortitel verleihen, heißt das, dass sie sich auskennen und cool sind.«

Auch ich selbst hätte meinem Freund seit vielen Jahren gerne einen Dr.h.c. verliehen. Weil er mir zum richtigen Zeitpunkt klar gemacht hatte, dass ich damit aufhören sollte, Musik machen zu wollen. Er hatte mich damals mit meiner Geige in seine Band geholt, nicht weil ich an dem Instrument, das ich nie leiden konnte, was mir jedoch erst später bewusst wurde, auch nur halbwegs was drauf gehabt hätte, sondern weil ich einige Effektgeräte angeschlossen hatte, mit denen ich heftigen Lärm herstellen und damit meine totale Unfähigkeit so überspielen konnte, dass Besoffene nichts merkten und andere vielleicht zehn Minuten dachten, dass die Hütte brennt. Ich habe mein Dilemma zumindest geahnt, konnte es mir aber nicht eingestehen und hätte es niemals zugegeben. Wenn jemand behauptete, ich könnte nicht spielen und nicht einmal im Sinn von Nicht-richtig-spielen-aber-tolle-Musik-machen-können, war ich in der Lage, ihn oder sie mit wahnsinnig schlauen Vorträgen über Punk oder den No-Wave-Jazz eines James Blood Ulmer oder den Free Jazz des Geigers Leroy Jenkins und seiner Band The Revolutionary Ensemble auszuschalten. Auf die Art hatte ich es sogar geschafft, den Dr. eine Weile einzunebeln. Bis er eines Nachts, als wir von einem Konzert heimfuhren und die anderen hinten im Bus saßen und schliefen, zu mir sagte: »Du, Franzl, weil wir jetzt einmal ganz unter uns sind, ich muss dir etwas sagen, weil du mein Freund bist, hör auf mit der Musik, das wird nichts, konzentrier dich lieber ganz auf’s Schreiben, ich glaube, du bist einfach ein Schreiberling, ehrlich, ich habe mir das jetzt lang überlegt.« Er schaute mich vorsichtig an. Er hatte etwas gesagt, das Träume kaputt machen und Leben zerstören konnte.

Aber ich sagte nur: »Danke.«

Und jetzt wollte der Dr. wissen, wie es denn Jahre vorher zu meinem ersten Musikartikel gekommen war. Der auch für ihn eine Bedeutung hatte, weil es der erste war, der über ihn und seine erste Band geschrieben wurde. Seine Mutter, die inzwischen über 90 war, während meine Eltern schon lange nicht mehr lebten, hatte ihn damals aufgeregt angerufen, dass sie in der Zeitung wären. Und weil wir uns damals noch nicht kannten, war es ihnen ein Rätsel, wie sie es in diese Zeitung geschafft hatten und wer das geschrieben hatte. Es war natürlich nicht das einzige Rätsel in unserer Gegend, über das man den Kopf schütteln konnte.

Ich war 18, als ich in den Sommerferien einen Aushilfsjob bei den Schongauer Nachrichten bekam, die damals unabhängig waren und heute zum Münchner Merkur gehören. Ein älterer Mitarbeiter der Schülerzeitung, für die ich schon was geschrieben hatte, brachte mich rein. Meine Aufgabe war, morgens zur Polizeista­tion zu gehen und dann die neuesten Vorfälle und Verbrechen aus dem Polizeideutsch zu übersetzen und aufzubereiten. Es gab in diesem August nur einen Fall, den der Chefredakteur als Topstory auf die Titelseite nahm und das war ein Auffahrunfall mit drei Autos, der von einer entlaufenen Kuh verursacht wurde.

Aber es passierte auch was Gescheites – es gab in der Stadt einen Jazzfan, dem es in diesem Sommer gelang, seine Konzertreihe »Jazz im Pfaffenwinkel« gegen alle Widerstände durchzuboxen. Das war keine kleine Sache, weil er dabei weder an Kapellen aus unserer Region dachte, noch an einen lustigen Sonntagvormittag mit Dixieland, sondern an die wahren Größen: als Startschuss haute er der Kleinstadt die Gruppe des John Coltrane-Schlagzeugers, die Elvin Jones Jazz Machine ans Hirn. Dieser Held in einem kulturell düsteren Landstrich brauchte bei der einzigen Lokalzeitung natürlich schon vorab große Berichte, denn wenn’s schief ging und in der Aula der neuen Hauptschule nur 100 Leute saßen, war er – im Gegensatz zum Kulturbeamten (den es dort damals nicht gab) – persönlich pleite und die Reihe beendet.

Mein Glück Nr. 2 war, dass sich bei der Zeitung niemand für diesen Jazzkram interessierte, aber der Stellvertreter des Chefredakteurs, zuständig für Sport und den Rest jenseits der CSU, mich nicht wie den Aushilfsdeppen behandelte, der ich war, sondern wie den Nachwuchsjournalisten, der ich sein wollte, und sich um mich kümmerte.

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