Herbert Regau brüllte mich an, ich solle alles liegen lassen und ihn zu einem Großbrand in Birkland begleiten, und als ich sagte, ich sei aber noch nicht fertig, brüllte er »scheiß drauf!«; er nahm mich in Stadtratssitzungen mit und stellte mich Provinzfürsten als den neuen Kollegen vor und gab mir nachher eine Halbe aus und erzählte, was hintenrum grade ablief. In der Stadt, die davon geprägt war, dass Franz-Josef Strauß seine Politkarriere hier begonnen und er immer noch seinen Wahlkreis hatte, war er ein äußerst linker Sozialdemokrat bei einer Zeitung, die am äußersten rechten Rand der CSU stand; ich hatte nicht damit gerechnet, den Ferienjob zu bekommen, weil ich nur Wochen zuvor mit einigen Freunden nachts zum Haus des Chefredakteurs gezogen war, um Steine an die Fensterläden zu werfen und »komm raus, du rechte Sau!« zu rufen; ein paar Straßen weiter hatte uns die Polizei geschnappt, obwohl wir keineswegs bis zur Unzurechnungsfähigkeit alkoholisiert waren, und auch der Chefredakteur war natürlich dazugestoßen, um für seine neue Titelstory ein paar atmosphärische Details zu bekommen, aber als ihm dann die Aushilfe vorgestellt wurde, hatte er mich anscheinend vergessen. Wenn wir Mittagessen gingen, meistens in Begleitung eines linken Druckers, der nicht viel älter als ich war, wurde über Marx und Engels gesprochen oder über Ernst Toller, Oskar Maria Graf, B. Traven und wen sonst sie in den bayrischen Lesebüchern vergessen hatten. Ich erfuhr, dass der Zeitungsverleger einer dieser freundlichen Unternehmer war, die ihren Angestellten Kredite gaben, »aber weißt was«, sagte mein Redakteur, »der totale Schmarren ist das, jetzt haben sie sich nämlich ihr schönes Häuschen hingestellt, und wenn einer einmal glaubt, er muss jetzt sein Maul wegen irgendwas aufmachen, merkt er plötzlich, aha, ich habe ja einen Haufen Schulden beim Chef, gute Nacht, Freunde, und man hat sich schon alles ans Bein gebunden, die Kinder kosten immer mehr Geld, da eine neue Waschmaschine und ein größeres Auto sowieso, da musst dich nicht wundern, wenn die alle Angst um ihren Job haben und keiner mehr was sagt, wenn was los ist, so schaut’s nämlich aus, aber davon erzählen sie dir auf deinem Gymnasium nichts, stimmt’s?« Ich hatte ihm erzählt, dass ich mich für Musik interessierte und er gab mir den Auftrag, diese neue Jazzsache zu betreuen. Ich allein war dafür zuständig und bekam soviel Platz, dass ich den Tellerrand nicht erkennen konnte.
Der Veranstalter übergab mir dicke Mappen mit Informationen über Elvin Jones und alle Jazzmaschinen, mit denen er gespielt hatte. Er merkte schnell, dass er mit seiner Sache einen Nerv bei mir traf und ich scharf darauf war, meine ersten vagen Kenntnisse auszubauen. Fast täglich kam er bei der Zeitung vorbei, weil ihm noch etwas eingefallen war. Wir saßen in seinem Auto und hörten Musik, die ich kennen musste. Er besuchte mich zuhause und erklärte meinen Eltern, dass es wichtig war, was ich machte und dass sie mich, den furchtbar schlechten Schüler, auf keinen Fall daran hindern sollten, weil Jazz eine bedeutende Sache war und nicht irgendein Scheiß, obwohl ich ihm sagte, das könne er sich sparen, weil mein Vater einen Tobsuchtsanfall bekommen hatte, als ich mit 14 zum ersten Mal die Beatles hörte, weil das alles für ihn kommunistisches, RAF-mäßiges, jede anständige Ordnung und Deutschland zerstörendes Teufelszeug war, und sich an seiner Haltung nichts geändert hätte. Andererseits war dieser verrückte Jazzfan Heinz Wensauer ein Mann, den mein Vater zwar nicht ernst nehmen, aber respektieren konnte, weil er kein langhaariger Haschterrorist war und man vernünftig mit ihm reden konnte und er einen ordentlichen Beruf hatte, er war Vertreter für edle Stoffe, die in Kirchen gebraucht wurden, an Tischen, Fenstern oder Körpern. Wir fuhren zu ihm nach Hause, um noch mehr Musik zu hören. In einer elegant-ultramodernen Wohnung stand die größte Plattensammlung der Welt. Und seine Freundin war eine blonde Schönheit. Die außerdem Lehrerin war! Diese Leute und die Art, wie sie lebten und mit mir redeten, waren mir vollkommen fremd, aber sie schienen mir nicht so unfassbar alt zu sein wie die anderen, die knapp über 30 waren, und ich war wohl etwas verwirrt von allem.
»Waren wir alle damals«, sagte der Dr., »das kapierte niemand, plötzlich diese Konzerte bei uns draußen.«
»Chet Baker, Sun Ra Arkestra, Dollar Brand alias Abdullah Ibrahim, mit dem ich mein erstes Interview gehabt hätte, aber der Rekorder ging nicht, und während seine Musiker am nächsten Tisch saßen und aßen, untersuchte er mit mir das Gerät und tröstete mich. Oliver Lake, Lester Bowie im weißen Arztkittel, Achtung, Bleichgesichter, jetzt kommt der Voodoo-Dr. mit der Medizin! Art Ensemble of Chicago, Leroy Jenkins’ Revolutionary Ensemble waren angekündigt, aber dann war irgendwas – dieser ganze wahnsinnige Wahnsinn vom letzten Außenposten des menschlichen Gehirns in einem oberbayrischen Drecksnest an der Grenze zum Allgäu. Und dieses Duo, Schlagzeug und Posaune. Der kam in einem langen schwarzen Ledermantel und mit einer riesigen Lederkappe zur Tür rein, und so saß er in der Garderobe, sagte keinen Ton, und genau so stand er dann breitbeinig auf der Bühne, hielt das Ding wie eine Panzerfaust, ein Orkan nonstop eine Stunde lang, wie’n Black Panther mit dem Spezialauftrag, die Entnazifizierung im Pfaffenwinkel endlich durchzusetzen und hinter ihm das Schlagzeug wie ein Bombenangriff. Wo die heute wohl sind?«
Ich war ein Jazzbeauftragter, der noch nichts geschrieben hatte, als ich meinen Redakteur fragte, ob ich etwas über das Konzert einer neuen Band aus der Gegend machen sollte. Logisch, sagte er, doch ich sollte nicht damit rechnen, dass es der Chef bringen würde, für den das nur totaler Blödsinn wäre, aber für mich wär’s ja auf jeden Fall eine gute Übung. Zwei Tage später nahm er mich in den Keller in die Setzerei mit, wo die sogenannten Setzer die Artikel aus dünnen Bleiplatten mit einzelnen Buchstaben zusammensetzten. Jeden Nachmittag um etwa vier Uhr lagen die einzelnen Seiten fertig in Holzkästen und wurden vom Chefredakteur kontrolliert und für den Druck freigegeben. Er konnte noch ein Ausrufezeichen reinsetzen oder einen Artikel rauswerfen. Es kam vor, dass auf einer Seite zu wenig Text war, für den Fall lagen neben dem Holzkasten weitere Artikel bereit, der sogenannte Stehsatz. Das waren unwichtige Artikel, die im Notfall jederzeit zu gebrauchen waren. Wie man sich vor dem Baden richtig abkühlt oder sowas. Dort lag mein Konzertbericht, der leider ein Verfallsdatum hatte. Ich ging jeden Nachmittag in den Keller, um nachzusehen wie es ihm ging. Nach einer Woche war ich sicher, dass er’s nicht schaffen würde. Ich stand neben dem Chefredakteur, als er in einem Holzkasten Bleisätze hin und her schob, die Seite hatte zuviel Luft und er suchte nach einem Stehsatz-Artikel, um die Seite dicht zu machen. Er hatte es schon mit einigen probiert, als er verächtlich sagte: »Was ist denn das mit diesem Jazzrockzeug da?« Ich wollte zu dem Mann, den ich vor kurzem als rechte Sau beschimpft hatte, nichts sagen. Er knurrte irgendwas und stopfte das Stück Blei in die Lücke.
»Mein erster Musikartikel hat einfach genau in die Lücke gepasst«, sagte ich.
»Und er hat meine Mutter beruhigt«, sagte der Dr.
»Mehr kann ein Schreiber nicht erreichen«, sagte ich.
Das kleine Zeitungshaus in der Schongauer Altstadt sah noch so aus wie früher, wie eine Nebenstelle des Königlich-Bayerischen Amtsgerichts. Der Gang nach hinten zu den Redaktionsräumen im ersten Stock war so eng und dunkel wie damals – doch dann strahlende Helligkeit, moderne Einrichtung, viel Platz. Ich erkannte nichts wieder. Sie hatten jetzt Computer, wahrscheinlich sogar dieses neue Internet. Die Kästen mit den Bleibuchstaben verrosteten im Keller oder im Heimatmuseum. Das Büro des Verlegers gab es nicht mehr; er hatte an seiner Tür zur Redaktion einen einseitig durchsichtigen Spiegel gehabt, um seine Leute heimlich beobachten zu können. War die Tür auch im Heimatmuseum?
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