Frizer saugte die Luft zwischen den Zähnen an, und die Speichelbläschen auf seinen Lippen zogen sich lispelnd und gurgelnd in die Mundhöhle zurück. Man konnte nur froh sein, wenn Frizer nicht auf die Idee kam, die Luft in entgegengesetzter Richtung zischen zu lassen. Denn auch ohne Nachdruck verschlug einem das, was einem da entgegenkam, den Atem. Weniger die Speichelfetzen und -schlieren, die zwischen den aufgesperrten Lippen einen flirrenden Tanz veranstalteten, als die Luft, die er ausblies. Man tat gut daran, sich nicht allzu genau auszumalen, was in den Zahnfleischtaschen an zermahlenen und versafteten Speiseresten herumlungerte, was sich hinterm Zahnstein an gärenden und nachgärenden Löchern in seinen bimssteinporösen Molaren verbergen mochte, was für Fäulnisprozesse sich in seinen Zahnritzen abspielten. Ob womöglich bereits Madenbesatz seine erbärmlichen Zahnfleischreste zierte.
Jedes Mal, wenn ich ihm begegnet bin, schoss mir die Frage durch den Kopf, ob er wohl diesmal eine Bemerkung zu der Tatsache machen würde, dass ich, sobald er das – mit Verlaub gesagt – Maul aufmachte, mein Gesicht ruckartig zur Seite drehte. Aber: Fehlanzeige. Nie ließ er durchblicken, dass er’s überhaupt registrierte. Womöglich, weil er felsenfest davon überzeugt war, den zartesten Lavendelduft zu verströmen, aus der froschbreiten Fressluke nach nichts als Kuchen zu riechen, sodass er anders geartete Empfindungen überhaupt nicht in Betracht zog.
Sie werden entschuldigen, aber der Mann roch, wenn er die Lippen nur einen Millimeterspalt öffnete, nach Dung und Gülle. Als habe er soeben in einen in der Mittagshitze dampfenden Misthaufen gebissen, der eine frische Ladung aus dem Schweinekoben abbekommen hatte, gemischt mit den Beständen aus der seit einem halben Jahr nicht geleerten Kotgrube des Hühnerstalls. Es war schier unglaublich, dass ein Kerl derart gen Himmel stinken konnte. Dabei war es ihm nicht mal gegeben, ein vorgerücktes Alter ins Feld zu führen, das einen gewissen Vorgeruch von Verwesung und Hölle gerechtfertigt hätte. So alt war er noch gar nicht. Aber er aß, fraß!, für sein Leben gern französischen Weichkäse. Direkt aus den Käseküchen vom Erzfeind, das muss man sich vorstellen! Wie er sich und wo er sich den beschaffte, entzieht sich meiner werten Kenntnis. Sicher aber ist, dass diese armen »Camemberts«, bei deren verzückter Aussprache er jedes, aber auch jedes Mal mit himmelwärts gerichtetem Riechkolben einen – wenn auch unangebrachten – Nasallaut unterbrachte, um so zu unterstreichen, dass diese orange-grün angelaufenen Käseklumpen schon eine weite Reise hinter sich hatten, bevor sie, gereift an Jahren und Erfahrung, in Frizers Hände gelangten. Dann schlug er hastig das Pergamentpapier zur Seite, biss quotschend, kaum dass ihm die verlockenden Dämpfe in die Nase krochen, handtellergroße Stücke ab und schlang sie mit einer einzigen Schluckbewegung herunter.
Kann sein, ja, geh ich verschärft von aus, dass er so ’n Ding grade mal wieder inhaliert hatte. Jedenfalls, da wird Ihre gute Frau Informantin recht haben, kann ich mir lebhaft vorstellen, dass er auch jetzt von einer olfaktorisch erlesenen Aura umgeben war. In der engen Kutsche sehr zur Freude seiner Mitreisenden.
Dass Walsingham sich angewidert zur Seite drehte und in die leere Nacht hinterm Kutschenfenster sagte, was er meinte, sagen zu müssen, lag allem Anschein nach nicht nur an der Dunstglocke, die wie ein riesiger Imkerhut Frizers kugelrunden Schädel umgab.
»Haltet ein, Frizer! Überschüttet unsern Reisegast nicht mit derlei schlüpfrigem Geschwätz«, raunte Walsingham. Als wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass die Mitwirkenden dieses Komplotts alles andere als eine verschworene Gemeinschaft waren, schubste Walsingham den augenscheinlich zutiefst beleidigten Frizer zurück in die Polster der Rückenlehne und rückte seinem Sitznachbarn, der sein Gesicht im hochgeschlagenen Kragen vergraben hatte, noch enger auf den Pelz, um ihm ins Ohr flüstern und trotzdem den offiziellen Duktus des Secret Service-Mitarbeiters in Diensten Ihrer Majestät überzeugend an den Tag legen zu können: »Also ich darf dich in gebotener Kürze unterrichten. Ihr Name: Lady Jane Blankfield. Geboren 1560 als Tochter des Duke of Bothwell, Schottland. Aber keine Sorge, sie ist im Begriff, ihrem Katholizismus abzuschwören, und ohnedies … «
Frizer quiekte wie ein junges Ferkel, das seit Tagen nicht mehr an eine Zitze gekommen war: »Im Begriff? Ihr habt mir doch versichert … «
Wieder machte einer dieser Steinbrocken auf sich aufmerksam, die den zu konturlosem Matsch zerfließenden Weg durchsetzten und die tief einschneidenden Kutschenräder ins Stolpern brachten, nachdem zuvor die tellergroßen Hufe der kraftstrotzenden Rösser Anstoß daran genommen hatten. Die von langer Fahrt messerscharf abgewetzten Eisenreifen der schweren Räder sodann schabten mit unbändiger Gewalt die Moose und Flechten von ihrer Granit-Spielwiese ab und legten die Stolpersteine bloß.
Dessen ungeachtet stieß und zerrte Frizer an Walsingham herum, als habe er es mit einem störrischen Abgesandten des Leibhaftigen zu tun: »Habt Ihr mir nicht höchstpersönlich selbst versichert, dass Lady Jane bereits vor Jahren zum letzten Mal ein katholisches Kirchengemäuer von innen gesehn habe und mit fliegenden Fahnen zum Protestantismus übergelaufen, also eine ehrbare Britin sei?!«
Mit einem spitz gezischten »Frizer!« und einigen energischen Ellbogenstößen ließ Walsingham Frizers Ferkelquietscher verstummen und richtete das Wort erneut an den Dritten im Bunde, der da ohne Wort und ohne Gesicht neben ihm auf der Bank kauerte: »Du musst wissen, bester Freund, dass Lady Blankfields eigentliche Obsession weniger der Konfession gilt, als vielmehr der schönen Literatur. Eine ausgewiesene Freundin überbordender Fantasie! Was durchaus in deinem Sinne sein dürfte, seh ich das richtig? – Ach, und noch dies: tragisch verwitwet seit anderthalb Jahren, durch welchen unglückseligen Umstand ihr das erwähnte Castle zufiel.«
»Ihr seid also in besten Händen«, schob Frizer kleinlaut nach.
Wissen Sie, ganz ehrlich, wenn ich mir diesen plumpen Kerl so vorstelle, wie er sich diesen Satz aus dem stinkenden Maul rausgedreht haben mag – ich werd den Eindruck nicht los, dass er das brave Phräschen nicht nur aus serviler Untergebenheit abgesondert hat, nicht bloß, um sich bei Großmeister Walsingham wieder einzuschleimen. Da wird, da muss blanker Neid mitgeschwungen haben.
Aus der nebelnassen Finsternis türmte sich plötzlich ohne jede Vorwarnung die hochaufgereckte Fassade des mehrfach beschworenen Castles auf. Mit tanzender Zunge rollte der komplett durchnässte Mann auf dem Bock sein »Brrr« über die Lippen, zog die Zügel an, ließ die Feststellbremse knirschen. Ein Geräusch, das die Nebel ebenso begierig schluckten wie das Schnauben der geschundenen Rösser. Er konnte getrost oben auf dem Kutscherstand hocken bleiben, das ächzende Wachbewegen der erstarrten Knochen würde er noch ein Momentchen aufschieben können. War er sich doch sicher, dass er sich ums Öffnen des Schlossparktors unten nicht zu bekümmern hatte. Würden die Herrschaften schon selbst erledigen.
Und er sollte recht behalten. An den leise zu ihm herauffispernden Stimmen erkannte er, dass die beiden feinen …
… na ja, sagen wir: um Eleganz bemühten …
… Herren, die ihn bezahlt hatten, als Erste herausstolperten, bevor dieser Dritte im Bunde folgte, dessen Gesicht er, der Kutscher – dabei gehörte es zu den ehernsten seiner Grundsätze, dass er nie losfuhr, ohne seine Fahrgäste, und zwar alle, persönlich in Augenschein genommen zu haben. Ein Grundsatz, den außer Kraft zu setzen, sich die Herren einen stattlichen Zuschlag hatten kosten lassen –, dessen Gesicht er also weder beim Einsteigen noch bei einer der drei Fahrtunterbrechungen unterwegs zu sehen bekommen hatte. Und auch jetzt schien den beiden Herren die Dunkelheit der nebelverhangenen Nacht äußerst gelegen zu kommen. Sie nahmen den Dritten in die Mitte und schoben grußlos ab.
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