Dolf Hermannstädter
GOT ME?
Hardcore-Punk als Lebensentwurf
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Trust-Kolumnen 1986 – 2007
FUEGO
Dolf Hermannstädter setzt sich in ungewöhnlich konsequenter Art und Weise mit dem Hauptproblem der Menschen in unserer Gesellschaft auseinander: Mit der permanenten Verwechslung der Erscheinung (wie eine Sache nach außen erscheint) und dem Wesen (was eine Sache, eine subkulturelle Bewegung, das menschliche Zusammenleben bedeuten soll). Was sich wie ein roter Faden eben auch durch die Punk/HC-Bewegung zieht, ist die von Dolf erkannte Tatsache, dass der Mensch nicht ist, was er sein sollte, und das er sein sollte, was er sein könnte. Das macht diese in klarem und nüchternem Stil gehaltenen Kolumnen zu etwas besonderem. Gerade weil doch jeder, der 1979 die Sex Pistols hörte, schon ein Buch darüber geschrieben hat.
Neben der konzentrierten Analyse jeweiliger Szenemoden und dem feinen Gespür für Trends plus einer guten Portion Gesellschaftskritik beharrt Hermannstädter auf der ursprünglichen Forderung von Punk: think for yourself - sich etwas eigendes aufzubauen, ohne dich von den Trends blenden zu lassen.
Wie in fast keinem anderen Bereich gehen bei den Begriffen Punk und Hardcore Wesen und Erscheinung so weit und so widersprüchlich auseinander. Einerseits ein dümmlicher, sich selbst abfeiernder Haufen von Kaputt-Chic. Andererseits eine eventuell noch bescheuertere Veranstaltung von tätowierten Testosteron-Gorillas. Doch für ein tieferes Verständnis, um was es Punk und dem jüngeren Hardcore-Punk eigentlich geht, was ihr Wesen ausmacht, wofür und wogegen sie sind, dafür stehen Dolf Hermannstädters Kolumnen, die zwischen 1986 und 2007 im Musik-Fanzine Trust erschienen sind.
»Living backwards«
Der Laden war ausverkauft, es war heiß und feucht. Als YUPPICIDE endlich die Bühne betraten, gab es kein halten mehr: Die Band verschwand hinter Stage-Divern, die problemlos von den Leuten aufgefangen worden, es wurde getanzt und gepogt, alles verwob sich ineinander. Man sah fast nur glückliche Gesichter, Bier spritzte und YUPPICIDE legten einen Knaller nach dem anderen nach. Unglücklicherweise mussten wir das Konzert früh verlassen, weil die ältere Schwester meines Konzertbegleiters uns vor dem AJZ Bahndamm Wermelskirchen an einem kalten November-Abend 1993 abholte, damit wir beiden Fünfzehnjährigen einigermaßen pünktlich nach Hause kommen. Der Physik-Test am nächsten Tag war miserabel, aber ich hatte etwas live gesehen, was ich vorher nur auf Tape kannte, etwas wildes, aufregendes, freakiges, etwas total abgefahrenes: Hardcore-Punkrock. Schneller als Punk, Texte mit mehr Aussage, keine Macho-Idioten, die Übernahme von guten Elementen der Hippie-Subkultur verbunden mit etwas eigenem und mit besserer Musik und mit mehr oder anderem Spaß.
Dass das alles jedoch für Leute, die seit Beginn der Punkrock-Kultur aktiv waren, längst schon die vierte oder fünfte Generation von Bands war, wusste ich nicht. Dass sich das TRUST-Fanzine seit 1986 damit auseinandersetzt, wusste ich damals jedoch, weil ich mir zu der Zeit das Heft zum ersten Mal gekauft hatte. Ich hätte es damals natürlich nicht geglaubt, dass ich fast 15 Jahre später selber bei dem Heft mitmache, ja, dass es dann das Heft überhaupt noch geben wird und dass ich ein Vorwort zu den gesammelten TRUST-Fanzine-Kolumnen von Mitbegründer, Herausgeber und Chef-Shitworker Dolf schreiben würde.
Wozu soll dieses Kolumnenbuch gut sein? File-it-next-to-the other-Bücher von Leuten, die ihre Wilde-Jugend-Jahrzehnte später abfeiern? Gibt es nicht genügend Romane und Fotobücher und geschichtliche Betrachtungsweisen in Buchform von und über Punkrock, Hardcore, Death-Grind und Calypso-Punk?
Ich denke, dass dieses Buch mehr als alle anderen eine extrem wichtige Sache aufzeigt: Der »alte Widerspruch« der Punk-HC-DIY-Unkommerziellen-Bewegung; der hohe Anspruch, nachdem alles mehr als nur Musik sein soll(te), der paradoxerweise genau dadurch vermittelt werden soll, dass Bands Musik machen und in ihren Texten darauf hinweisen, dass im Prinzip all das nicht wichtig und längst nicht genug ist, dass es in erster Linie um die kritische Betrachtung der kapitalistischen Gesellschaftsstruktur geht, um die Veränderung von einem Selber hin zu etwas Gutem, das Leben selber in die Hand nehmen, mit anderen Menschen etwas gemeinsames zu schaffen, für eine selbstbestimmte Kultur kämpfen. Also im Prinzip die Verwirklichung des alten Spruchs von Karl Marx: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, aber es kommt darauf an, sie zu verändern«.
An einigen Kolumnen, besonders an denen Ende der 80iger, merkt man, dass es nicht reicht, die »Politiker«, die »Bosse« etc. abzulehnen, sich sein Nest in der Subkulturszene zu suchen und dann ist man fertig. Falsch! Zum Glück muss man seinen eigenen Kopf immer benutzen, sei es dazu, Prozesse im Mainstream intensiver zu verstehen, sei es dazu, szene-interne Doktrinen, nach der eine Band oder eine Bewegung das und das zu sein hat, zu hinterfragen. Wir sind alle Menschen, wir machen alle Fehler, wir müssen das auch machen, sonst gäbe es nie Fortschritt.
Dolfs Kolumnen zeichnet es aus, dass sie sich nur indirekt mit Musik beschäftigen. Meistens geht es um das Leben, Gedankensprünge, alltägliche Reflexionen. Das zeichnet die Kolumne im Vergleich zu dem üblichen Standard an Kolumnen in der Punk-Fanzine-Kultur sehr aus und bleibt auch etwas besonders in dem Erscheinungsorgan, dem TRUST Fanzine, in dem es in erster Linie um musikalische (und die sie stützende Szene-Infrastruktur) und in zweiter Linie um sozio-kulturelle Inhalte geht.
Vielleicht findet die Ü30-Generation in der Kolumnen- Sammlung, die mit der ersten Ausgabe im Sommer 1986 beginnt und auch noch einundzwanzig Jahre später weiterläuft, ihre eigene Biografie wieder. Eventuell bekommen auch U20-Leser einen Eindruck, wie es damals war – eben genauso wie heute, nur halt völlig anders – vielleicht erkennt man, dass es im Punkrock/HC immer schon von Anfang an Trends und Widersprüche gab zwischen dem, was gesagt und dem, was getan wurde, und dass es vom Beginn an (wir gehen jetzt mal von CRASS aus) eine Gegenbewegung war die etwas neues, etwas bewußteres und konstruktives wollte und will, als der destruktive Punk der Spät-70iger: Hardcore-Punkrock.
Oder eben die »deutsche« Version von »American Hardcore«?
HC-Punk ging und geht im besten Falle immer aufs Ganze: Auf das Leben. Musik beeinflusst nicht das Leben, aber wie viele Menschen hatten Songs im Kopf, als sie ihr Studium oder ihre Ausbildung geschmissen hatten, endlich Schritte vollzogen haben, die längst überfällig waren? Musik und somit auch diese Kolumnensammlung verändert nicht dein Leben, das wäre ja auch zu einfach: Den ersten Schritt muss man immer selber machen, es kann kein anderer für einen machen. Und hier wird es doch kurios: Gibt es nicht genügend Bücher und historische Abrisse, die genau das nicht vermitteln oder die dieser »do it yourself bzw. together«-Mentalität nur eine zeitlich begrenzte Gültigkeit für die 80iger bzw. bis zu GREEN DAYs Dookie zugestehen wollen? Fuck no, die Zeit ist heute, wir leben heute, es ist unsere Zukunft und wir haben es selber in der Hand!
In den Kolumnen gibt es noch zumindest eine weitere wichtige Botschaft, die vermittelt wird und man sollte sie trotz ihrer offensichtlichen Banalität oder Selbstverständlichkeit keineswegs übersehen: HC-Punk ist der Versuch, eine auf gegenseitigem Respekt und Vertrauen gegründete Gegenkultur zu einem auf Egoismus, Profitsucht und letztendlich menschlich nicht fassbarer Idiotie basierenden kapitalistischer Gesellschaftssystem aufzubauen (oder läuft es für 95% der Aktivisten nicht doch parallel? Heute ein Punk, morgen wieder bei der Bank etc.?). Die Gegenkultur schafft Widersprüche: Im echten Arbeitsleben gibt es Hierarchien, größere Egos, all den ganzen Scheiß, den wir doch nicht wollen, aber dann viel zu oft in der doch so alternativen Kultur wiederfinden, uns darüber empören und zuguter Letzt dann noch dieser Kultur jeglichen Belang absprechen, dass sie ja teilweise noch schlimmer als der so verhasste Mainstream sei.
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