Irgendwann war »ich so alt geworden, dass sich die Frage stellte, ob ich jetzt einfach auf die Rente warten oder vorher noch was auf die Beine stellen sollte. Das Geld auf meinen Sparbüchern wartete auf sinnvolle Verwendung.« Aber statt nach Tibet zu reisen, lautete Frau Müllers Antwort: »Nichts. Ich wollte nichts tun. Vor allem wollte ich wohl nichts tun müssen...« Und irgendetwas würde sich schon ergeben, man musste »diesem Etwas nur die Chance geben, endlich aufzutauchen«. Und dieses Etwas tauchte schließlich auf, wenngleich es »nicht so spektakulär war, wie ich es früher erträumt hatte«.
Sie fing an, ihre »Geschichten von Frau K.« zu schreiben und in Kowalski , später dann, als Kowalski pleite ging, im Hamburger Regionalteil der taz zu veröffentlichen, bevor sie dann gesammelt als Buch erschienen, das zahlreiche Auflagen erlebt hat und inzwischen zu einer Art Klassiker geworden ist, denn wie in einer Zeitreise kann man in ihren Geschichten noch einen Blick auf ein Hamburg erhaschen, das es so nicht mehr gibt. Danach hatte sie eine zeitlang eine Kolumne in der Titanic und schrieb außerdem für die jungle world , die taz , stern, Weltwoche, Frankfurter Rundschau und Spiegel special . Und Brigitte .
Nicht unbedingt ein Blatt, zu dem sie ein inniges Verhältnis gehabt hätte. In einem Brief schrieb sie mir:
» Brigitte will unbedingt Glossen haben. Die hab ich auf Mai vertröstet. Da ist jetzt ein neuer Macker, der angeblich ›schrill‹ sein soll, na, ich weiß nicht, und der versuchen will, auch mal ›schräge‹ Sachen reinzubringen. Ich bin ein bisschen nett, damit sie später eine Buchbesprechung bringen.«
Fanny Müller war sehr gefragt, aber sie hielt immer Distanz und entwickelte nie die Allüren einer Kulturbetriebsnudel. Wenn aber irgendein Redakteur glaubte, in ihren Artikeln herumredigieren oder Vorgaben machen zu dürfen, dann war die Zusammenarbeit schnell wieder beendet, selbst wenn es befreundete Blätter wie Titanic oder die taz betraf. Da sie nämlich etwas »anständiges« gearbeitet hatte und von ihrem Ersparten leben konnte, war sie nicht darauf angewiesen, sich zu arrangieren. Und wenn sie mit einer Anfrage nichts anfangen konnte, lehnte sie höflich, aber bestimmt ab. Als ich ihr vorschlug, für die Anthologie »Das große Rhabarbern« eine der zahlreichen Talkshows zu vernichten, schrieb sie mir: »Bist Du eigentlich Masochist? Talkshows kucken? Da winde ich mich schon als Zuschauerin zu Hause vor Scham stellvertretend für die Gäste, die das ja nie tun ...«
Am 4. November 2005 erhielt sie den Ben-Witter-Preis und Willi Winkler hielt eine ganz wunderbare Laudatio. Als wir dann später in einem noblen Hamburger Restaurant, in dem sonst nur das gehobene Hamburger Bürgertum verkehrte, auf Kosten der Zeit zusammen speisten, sagte sie zu mir: »Ich wusste gar nicht, dass der von mir spricht.« Gefreut hat es sie umso mehr, wenngleich sie immer misstrauisch blieb gegenüber Leuten, die als offizielle Vertreter der Kultur galten, denn wie sie einmal schrieb:
»Als Kind hielt ich Kultur für etwas, das Erwachsene in einem Beutel mit sich führen, wenn sie verreisen. Dieser Eindruck änderte sich im Laufe meines Lebens, allerdings neige ich heute immer mehr dazu, meinem ursprünglichen Urteil recht zu geben.«
In ihrem 2008 erschienenen »Tagebuch«, ihrer letzten Veröffentlichung, schrieb sie in ihrem letzten Eintrag:
»Im Januar werde ich mich einer Operation unterziehen. Eine Alternative gibt es nicht. Nur die zwischen Tod und Leben. Ich habe ›Leben‹ gewählt und wenn es denn der Tod sein muss: Ich habe ein gutes und reiches Leben gehabt, eine Familie, die zu mir steht, Freundinnen und Freunde. Also alles tipptopp und prima. Keine Tränen bitte. Ich rufe dann von drüben an, rückt schon mal die Tische zusammen.«
Es hat noch eine ganze Zeit gedauert, bis der Tod schließlich doch kam, der ihr aber das, was sie erlebt hatte und worauf sie zurecht stolz war, nicht mehr nehmen konnte.
»Nicht alles, was ich hätte tun und erleben können, habe ich getan oder erlebt, aber die Zeit auf Erden ist begrenzt. Sie reicht nicht aus für Frauen, auch nicht im reichen Mitteleuropa, Liebesbeziehungen, interessanten Beruf, politische und soziale Einmischung, Kinder, Freundinnen und auch noch jede Menge Spaß, Abenteuer und Blödsinn unter einen Hut zu kriegen. Man muss und kann sich immer wieder neu entscheiden, welchen Weg man gehen will, aber man sollte sich im Klaren darüber sein, dass man, wie die Entscheidung auch immer ausfällt, für alles bezahlen muss. Das Dumme ist nur, dass sie einem vorher den Preis nicht sagen.«
Jetzt ist sie weg. Inzwischen dürfte sie Horst Tomayer und Harry Rowohlt wieder getroffen haben, die ja auch aus Hamburg waren und mit denen sie die ein oder andere Lesung zusammen bestritten hat. Und ich weiß auch schon, was sie sagen wird: »Mensch Harry, jetzt is aber ma gut.«
2016
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