Sagenhaftes Muldenland
Von Kobold, Nix und Weißen Frauen, Huckauf, Mahr und Wiedergängern
Anne Maurer
Fotografien: Harry Gugisch, Schmannewitz
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.deabrufbar.
ISBN 978-3-934544-18-5
E-Book-Ausgaben
ISBN 978-3-86729-516-1 (epub)
ISBN 978-3-86729-517-8 (pdf)
2. Auflage 2013
© Sax-Verlag Beucha • Markkleeberg, 2003
Alle Rechte vorbehalten
www.sax-verlag.de
eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net
Inhalt
Es geht die Sage …
Was ist eine Sage?
Das kann man glauben oder nicht
Geheimnisvolle Muldenlandschaft
Sagenhaftes aus Napoleons Zeiten
Ausgewählte Sagenmotive
Die Quellen der Sammlung
Sage oder Fälschung?
Auf der Suche nach vergessenen Sagen
Die Sagensammlung zum Muldental
Von Ammelshain bis Zwochau
Bibliografie
Anmerkungen
Motiv-Verzeichnis
Es geht die Sage …
Viel Arges gibt es heute zu fürchten. Doch das besondere Grauen, das ein Spuk auslöst, ist selten geworden. Nur wenige können sich einer unheimlichen Erfahrung rühmen, so beliebt sie auch als erzählte ist. (…) Wie aber bekannt, fühlten sich frühere Zeiten unvorstellbar verspukt. Jeder dritte Bauer hatte seinen Kobold im Haus, in allen Winkeln fürchtete man die andere Welt. Teufel drückten und drängten in der nächtlichen Zimmerwand, bald brach ein Auge, bald eine Zunge vor, nur Gebete verhinderten, dass der ganze Dämon kam. In den Wäldern hausten Geister, wilde und zarte, Männer ohne Kopf am Kreuzweg (…). Die Sage ist voll solcher Berichte, und sie wirken desto erstaunlicher, als sie bei allem Aberglauben so schlicht und zweifelsfrei vorgetragen werden wie eine wirkliche Beschwerde oder Mitteilung . 1
Ernst Bloch, S. 358
Wer kennt sie nicht, die Spuk- und Gruselgeschichten, die von verborgenen, jenseitigen Welten und unheimlichen Schreckgestalten berichten. Wenn wir in vertrauter Runde näher zusammenrücken und ein Erzähler mit den bedeutsamen Worten Es geht die Sage … seine Geschichte beginnt, jagen uns rätselhafte, Mark und Bein erschütternde Begebenheiten eine Gänsehaut über den Rücken. Die vertraute Welt wird plötzlich fremd und unheimlich. Im Nachbarort, im angrenzenden Wald, ja sogar im Haus nebenan soll sich Ungeheuerliches zugetragen haben.
Zugegeben, mit einigen dieser Sagen kann man nur noch die ganz Kleinen unter uns erschrecken. Wer sonst findet heutzutage den Drachen im Grimmaer Stadtwald oder die Nixen in der Mulde wirklich bedrohlich. Aber kennen Sie die Sage vom gespenstischen Leichenzug zu Wurzen, vom zwielichtigen Doktor aus Großbothen oder dem kopflosen Reiter bei Thammenhain? Es gibt Wunderliches zu entdecken in der jahrhundertealten Sagenwelt des Muldenlandes. Durch sie erfahren wir, wie sich unsere Vorfahren ihre Welt erklärten, was sie ängstigte und bewegte. Einige ihrer Probleme betrachten wir amüsiert aus der Distanz der Zeit. Irrlichter- und Koboldspukgeschichten lassen uns nicht mehr in Panik geraten. Andere Sagenthemen haben hingegen kaum an Aktualität eingebüßt. Oder hätten Sie nicht auch Lust, sich von der sagenumwobenen Grimmaer Wunderblume mit Schätzen und ewiger Jugend beschenken zu lassen? Einen Versuch wäre es doch wert …
Im ersten Teil des Buches finden Sie Hintergrundinformationen zur Sage selbst, zu den Besonderheiten der Muldentaler Sagenwelt sowie zu den Sagenquellen. Im zweiten Teil wartet die bislang größte Sagensammlung der Region mit über 200 Sagen aus nahezu 1000 Jahren darauf, von Ihnen entdeckt zu werden. Ich wünsche Ihnen dabei sagenhafte Unterhaltung!
Was ist eine Sage?
Das Wort Sage hat eine lange Geschichte. Seinen Ursprung hat es in dem germanischen Wort * sago(n ) 2vor etwa eintausendsiebenhundert Jahren. Für das Althochdeutsche ist saga im 9. Jahrhundert belegt, und bereits im Mittelhochdeutschen des 12. Jahrhunderts kennt man das Wort in der heute bekannten Form sage . Seine Bedeutung hat sich einige Male geändert. Während es anfangs allgemein für Rede, Aussage, Erzählung, Bericht, Gerücht stand, wurde es seit dem 14. Jahrhundert für die Kunde von Ereignissen der Vergangenheit (ohne historische Beglaubigung ) 3gebraucht. Diese Bedeutung blieb bis zum 18. Jahrhundert bestehen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als das Interesse an volkskundlichen Überlieferungen erwachte und zahlreiche Märchen- und Sagensammlungen entstanden, gelangte das Wort Sage mit der uns geläufigen Bedeutung in den Fachwortschatz der literaturwissenschaftlichen und volkskundlichen Forschung. Die Brüder Grimm gaben 1816 und 1818 die bis dahin größte Sagensammlung »Deutsche Sagen« in zwei Bänden heraus und stellten ihr folgende Worte voran:
Es wird dem Menschen von heimatswegen ein guter Engel beigegeben, der ihn, wann er ins Leben auszieht, unter der vertraulichen Gestalt eines Mitwandernden begleitet; wer nicht ahnt, was ihm Gutes dadurch widerfährt, der mag es fühlen, wenn er die Grenzen des Vaterlandes überschreitet, wo ihn jener verläßt. Diese wohltätige Begleitung ist das unerschöpfliche Gut der Märchen, Sagen und Geschichte (…). 4
Schon zuvor hatten sich Jakob und Wilhelm Grimm in theoretischen Schriften mit jenem guten Engel der Volksüberlieferungen beschäftigt. In der »Zeitung für Einsiedler« 1808 beschrieb Jakob Grimm die Sage als alte Poesie, die sich das gemeine Volk erzählt, in dessen Mitte sie niemals untergegangen ist, sondern sich fortgesetzt und vermehrt hat . 5Sie berichtet von Geistern, Zwergen, Zauberern und ungeheuern Wundern . 6Jakob Grimm nahm zu dieser Zeit an, dass die Volkssage lange Zeit vom Vater dem Sohne erzählt 7wurde und sie deshalb bereits so alt war, dass sie Auskunft über germanische Mythen und Gottheiten wie Holda, Bertha, Fricka oder Wotan geben könne. Sein Ziel war es, anhand der deutschen Sagen eine germanische Urreligion zu rekonstruieren.
Nachdem die mythologischen Vorstellungen der Brüder Grimm in den folgenden Jahren von zahlreichen Forschern übernommen wurden, etwa von Karl Simrock (1802–1876) und Albert Kuhn (18121881), wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts kritische Stimmen laut. 1925, als der Basler Germanist und Volkskundler Friedrich Ranke seinen programmatischen Vortrag »Grundfragen der Volkssagenforschung« hielt, 8hatte sich die Forschung weitgehend von der Grimmschen Vorstellung entfernt. Ranke schrieb über ihre so genannte Mythologische Schule:
Ihre kühnen Träume von einer Zurückgewinnung altheidnischer Mythen aus dem Schatz abergläubischer Erzählungen des heutigen Volkes sind zerronnen, nur in Büchern halbwissenschaftlicher Art führen ihre Gestalten noch ein ungewisses Dasein im Zwielicht unklarer Scheinerkenntnisse.9
Die junge Volkssagenforschung irrte sich in der Annahme, dass die Sagen in der mündlichen Überlieferung die Jahrhunderte ohne Veränderungen überdauert hatten. Nach Rankes Erkenntnissen reichte das Gedächtnis des Volkes
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