Die Täter blieben nicht nur unbestraft, sie konnten sich mit ihrer Zeit in Untersuchungshaft sogar noch rühmen. 1936 vermerkte Adolf Haas in einem Personalbericht unter „Verletzungen, Verfolgungen und Strafen im Kampfe für die Bewegung“: „Verhaftung 14 Tage wegen Anzeige eines Juden“ – tatsächlich waren es gerade einmal zehn Tage. 135In Zukunft musste er nicht einmal befürchten, für Erpressungen und andere Aktionen gegen Juden überhaupt belangt zu werden. Am 2. August 1934 starb Reichspräsident Paul von Hindenburg. Hitler übernahm nun auch dieses Amt und regierte fortan als „Führer und Reichskanzler“ – tatkräftig unterstützt von seiner treuen „Schutzstaffel“, die, losgelöst von der SA, immer mächtiger wurde.
2.4 Der hauptamtliche SS-Führer: Weg mit der Bäckerschürze, rein in die Uniform, 1934–1937
Die Mörder wurden belohnt: Himmler und seine SS hatten sich im Sommer 1934 bedingungslos loyal gegenüber ihrem „Führer“ gezeigt, als sie für ihn die Führungsspitze der SA und andere Gegner eliminierten. Ende August 1934 erhob Hitler seinen Reichsführer-SS zu einem „Reichsleiter der NSDAP“, der nur noch ihm selbst unterstand. Himmler war bereits seit Frühjahr 1933 Polizeipräsident von München und Chef der politischen Polizei Bayerns sowie seit April 1934 Leiter der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) in Berlin. In den nächsten Jahren baute er seine Machtstellung und die seiner „Elitetruppe“ immer weiter aus. Nun hatte er auch Budget für mehr hauptamtliche Stellen.
Auf Adolf Haas‘ Karriere hatte der Kurzaufenthalt hinter Gittern im Juli 1934 keinerlei Einfluss. 1935 wurde er gleich zweimal befördert: am 20. April, anlässlich des „Führergeburtstages“, zum Obersturmführer und am 15. September zum Hauptsturmführer – wiederum mit äußerst lobenden Beurteilungen. Er sei „der beste Sturmführer der Standarte“, pries ihn der Führer seines SS-Abschnitts im Juli 1935. 136Wenn es nach ihm ginge, sollte Haas sogar ab August seinen eigenen Sturmbann führen, der zwischen 250 und 600 Mann stark sein konnte. Seit zwei Jahren musste er sich so auf seinen ehrenamtlichen Dienst bei der SS konzentriert haben, dass er dabei völlig sein eigenes Geschäft vernachlässigt hatte.
Kurz nach der „Machtübernahme“ 1933 hatte Haas bereits geklagt, dass seine Bäckerei „durch meine Parteizugehörigkeit der NSDAP sehr schlecht ging“. 1371935 bezeichnete er sich als „erwerbslos“, da er angeblich ein Opfer eines Boykotts geworden war. 138Seine Vorgesetzten vermerkten zu seinen „wirtschaftlichen Verhältnissen“: „Die Bäckerei geht sehr schlecht, da Haas wegen seiner Zugehörigkeit zur NSDAP boykottiert worden ist. Die dieserhalb abgesprungen Kunden sind auch noch nicht zurückgekommen.“ 139„Viele ‚alte Kämpfer‘ der Partei klagten darüber, dass sie wegen ihres Einsatzes für die Hitler-Bewegung wirtschaftliche Nachteile hätten in Kauf nehmen müssen“, schreibt der Historiker Sven Felix Kellerhoff. „Das traf gelegentlich zu, oft dürfte es sich aber um eine bequeme Entschuldigung für das eigene Scheitern gehandelt haben.“ 140Sicherlich kauften keine SPD- und KPD-Anhänger mehr ihre Brötchen bei Adolf Haas. Die Mehrheit der Hachenburger hatte der nationalsozialistischen Bewegung aber bereits vor 1933 sehr wohlwollend gegenübergestanden. Ein Boykott eines nicht jüdischen Bäckers, der Mitglied der NSDAP und SS war, erscheint daher unwahrscheinlich. Noch unglaubwürdiger wird die Behauptung, wenn Haas mit dem „Boykott“ paradoxerweise die Bürger jüdischen Glaubens beschuldigte. Die jüdische Gemeinschaft hatte zwar in Hachenburg eine jahrhundertealte Tradition, aber gerade einmal 75 Mitglieder (1936). 141Diese unterdrückte Minderheit hatte seine Bäckerei bestimmt nicht ruiniert.
Glaubwürdiger ist eher, dass sich der angeblich „boykottierte“ Bäcker wie schon bei seiner kurzen Inhaftierung als Kämpfer für die nationalsozialistische Bewegung darzustellen wusste, der nicht vor persönlichen Opfern zurückschreckte. In der Allgemeinen SS war seit 1933 zudem ein Dienstpensum von mindestens zwei Abenden in der Woche sowie zwei Sonntagen im Monat üblich. SS-Führer wie Adolf Haas, ehrenamtlich hin oder her, investierten zweifelsfrei mehr Zeit, mussten sie ja die weltanschaulichen Schulungen, Sprechabende bei der NSDAP-Ortsgruppe, den „Wehrsport“, Verhaftungsaktionen oder SS-Abende vorbereiten, an denen die Uniformen kontrolliert, Befehle ausgebeben und das Exerzieren und Singen von NS-Kampfliedern geübt wurden. 142Wann sollte da noch Zeit bleiben, erfolgreich eine Bäckerei zu führen?
Der gelernte Beruf hatte letztlich seinen Reiz verloren, spätestens seit 1934, als die SS immer größer und mächtiger wurde und ihm die Chance auf eine richtige Karriere mit weitaus besserem Einkommen bot. Die Bäckerschürze tauschte er daher wahrscheinlich ohne Wehmut endgültig gegen die SS-Uniform, als er Mitte des Jahres 1935 sein Geschäft aufgab. Die SS unterstützte ihn die nächsten Monate finanziell, bis sie ihn am 10. Oktober 1935 zum hauptamtlichen Führer ernannte. 143Als neuer SS-Führer des II. Sturmbannes in der 78. SS-Standarte im nahen Limburg (Lahn) und mit dem neuen Rang eines SS-Hauptsturmführers verdiente er mit 200 Reichsmark monatlich nun deutlich mehr als mit der Selbstständigkeit und auch mehr als der Reichsdurchschnitt, der 1935 bei etwa 140 Reichsmark lag. 144Innerhalb von drei Jahren sollte sich sein Gehalt sogar mehr als verdoppeln. 145Haas musste sich um seine Zukunft und die seiner Familie nicht mehr sorgen. Im Sommer 1932 war seine Mutter gestorben, im Juni 1933 hatte seine Frau aber ihren zweiten Sohn geboren. Solange er seinen Verpflichtungen bei der SS nachkam, hatten sie ausgesorgt. Was dazugehörte und was noch dazugehören würde, wusste er genau.
Am 7. September 1935 hatte die NSDAP-Ortsgruppe im Hotelrestaurant „Westend“ zu einer großen Propaganda-Kundgebung geladen – eine Pflichtveranstaltung für Haas‘ SS. Obwohl ihm das Etablissement einmal gehört und er als Stadtratsmitglied die NSDAP vertreten hatte, stand er selbst nicht auf der Rednerliste. Von der nationalsozialistischen Weltanschauung war er laut einem Vorgesetzten zwar „vollkommen durchdrungen“, für öffentliche politische Reden reichten seine rhetorischen Fähigkeiten aber nicht aus. 146Als Zuhörer konnte er sich immerhin damit rühmen, tatkräftig bei den angesprochenen „Erfolgen“ mitgewirkt zu haben. Diese müssten aber hart verteidigt werden, skandierte ein Sprecher: „Staatsfeinde und Dunkelmänner stören unter der Tarnung von konfessionellen und anderen Verbänden die Aufbauarbeit des Nationalsozialismus, es geht um Sein und Nichtsein des deutschen Volkes.“ Gerade aber das Judentum müsse besonders bekämpft werden, da es viel Unheil über Deutschland gebracht habe. Am Ende schwor der Redner alle auf Adolf Hitler ein und endete mit den eindeutigen Worten: „Der Kampf geht unvermindert weiter, bis zur völligen Lösung.“ 147Zwar sprachen die Nationalsozialisten erst seit Beginn der 1940er-Jahre von der „Endlösung der Judenfrage“, womit sie noch die staatlich organisierte Vertreibung der Juden meinten – erst mit dem Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 und spätestens nach der Wannsee-Konferenz 1942 etablierte sich die „Endlösung“ als Tarnbegriff für den Massenmord an den europäischen Juden. 148Nichtsdestotrotz war der Wesensgehalt von der „völligen Lösung“ in der Rede auf der NSDAP-Kundgebung 1935 unmissverständlich radikal und allen Beteiligten klar.
Wer sich nicht mehr fähig fühlte, in der SS dem Regime zu dienen, konnte bis Kriegsbeginn jederzeit um eine „ehrenvolle“ Entlassung bitten. Sie hatte keine negativen Folgen und Tausende nutzten diese Möglichkeit. 149Doch weder Reue vor den begangenen Taten noch Furcht vor zukünftigen „Verpflichtungen“ drängten Adolf Haas, die SS zu verlassen. Im Gegenteil: Er half weiterhin bei der Verfolgung und Ausgrenzung von Juden und anderen „Staatsfeinden“, seit April 1936 vor allem in Wiesbaden, wo er den I. Sturmbann der 78. SS-Standarte übernahm. Seine Familie begleitete ihn zum neuen Dienstort. Mit seiner Frau, seiner neunjährigen Tochter und seinem zweijährigen Sohn zog er Mitte April in die Villa seiner SS-Standarte in der Walkmühlstraße 31. Wenige Tage später kam seine zweite Tochter zur Welt. 150
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