Danach ließen sie sich durch die Straßen Münchens treiben. Als sie an einer Boutique vorbeikamen, entdeckte Nancy eine Bluse im Schaufenster. Und als sie im Laden nach ihr suchte, entdeckte sie auch noch ein exzentrisches Kleid. Hätte Sid sich in Mode ausgekannt, wäre ihm aufgefallen, dass Nancy nicht einfach nur ein Kleid mit komischem Muster anprobierte, sondern eins von Jean-Charles de Castelbajac mit Mondrian-Motiven. Und wenn er dann noch gewusst hätte, dass Castelbajac mit dem Manager der Sex Pistols Malcolm McLaren befreundet und Mondrian ein Maler war, dann wäre er vermutlich noch beeindruckter gewesen, als er es sowieso schon war, auch wenn das mehr mit Nancy zu tun hatte und weniger mit Castelbajac oder Mondrian.
»Toll«, hörte sich Sid sagen und es kam ihm nicht fremd vor, während Nancy als Mondrian vor ihm auf und ab paradierte.
Noch vor einem Tag hätte Sid niemals geglaubt, in einer Boutique zu sitzen und »toll« oder »whow« oder »Klasse« zu sagen. Menschen, die das taten, hatte er für armselige Trottel gehalten. Und jetzt drehte sich Nancy vor dem Spiegel, besah sich von hinten und vorne, zupfte am Mondrian und ihren Haaren und fragte: »Findest du?« Allerdings war er auch noch nie mit Hilfe von weißen Mäusen einkaufen gewesen.
Nancy trug Kleid und Bluse zur Kasse, und Sid fragte sich, ob sie noch mehr Mäuse hatte. Er schlenderte unauffällig in die Nähe der Tür und wartete mit klopfendem Herzen auf den Trick, den sich Nancy diesmal ausgedacht haben würde. Aber er sah sie einfach nur mit der Verkäuferin plaudern. Schließlich hörte Sid die Frau an der Kasse sagen: »Aber selbstverständlich. Wir lassen Ihnen die Sachen in das Vier Jahreszeiten bringen.«
Der Rezeptionist des Vier Jahreszeiten hob den rechten Arm wie ein Klassenstreber. Er reckte das Kinn nach oben und stellte sich auf die Zehenspitzen.
»Ihr Herr Vater hat gerade angerufen und ausrichten lassen, Sie sollen bitte sofort zurückrufen. Es sei äußerst dringend. Er klang sehr beunruhigt«, sagte der Rezeptionist sehr beunruhigt.
Nancy ließ sich das Telefon reichen und wählte eine Nummer. Es war nicht die Nummer ihres Vaters. Es entwickelte sich ein durch kleine Pausen unterbrochener Monolog.
»Hallo? Hallo Papa, du hast angerufen? Was ist denn passiert?« Pause. »Nein, alles in Ordnung.« Pause. »Wir sind gut hier angekommen.« Pause. »Ja, tut mir leid, ich hätte dich früher anrufen sollen. Ich hab’s vergessen.« Pause. »Ja, Benny ist auch hier. Willst du ihn sprechen?« Kurze Pause. »Nein?« Pause. »Wann kommt ihr?« Pause. »Ach, morgen schon? Schön, dann sehen wir uns ja bald. Tschüss. Und sag Mama, sie soll sich nicht aufregen.«
Sie reichte den Telefonhörer über den Tresen zurück und fasste das Gespräch für den Rezeptionisten noch einmal zusammen. Er gab sich beruhigt, aber Nancy sah ihm an, dass ein kleines Körnchen Misstrauen geblieben war, das jederzeit keimen konnte.
Nancy sagte, er solle ihren Vater durchstellen, würde er noch einmal anrufen, und lächelte ein liebenswürdiges Lächeln. Der Rezeptionist lächelte beflissen zurück.
»Scheiße«, sagte Nancy, als der Rezeptionist sie nicht mehr hören konnte.
Sie wusste, dass es riskant war, in dem Vier Jahreszeiten abzusteigen, aber Sid damit zu beeindrucken, war einfach zu verlockend für sie gewesen. Ihr Onkel Joseph von Westphalen war als Journalist in der Münchner High Society unterwegs und saß häufig mit Schauspielern im Hotel Vier Jahreszeiten zusammen. Er gehörte zum sogenannten »Etagenadel«, also denjenigen aus der weitverzweigten Familie, die weder ein Schloss noch das dazugehörige Grundstück besaßen, ja nicht mal ein Haus. Und weil Joseph von Westphalen im Hotel gut bekannt war, stieg auch sein Bruder Viktor von Westphalen gerne im Vier Jahreszeiten ab, wenn er in München zu tun hatte. Ihm war das angenehmer, als bei den von Ledebur-Hellbachs zu logieren, der Familie seiner Frau, die zum Hochadel gehörte und ihn bei jeder Gelegenheit ihre Geringschätzung spüren ließ, weil er nur dem »Wald- und Wiesenadel« angehörte, wie Viktors Schwiegervater sich gerne mokierte. Er empfand deshalb gegenüber den Eltern seiner Frau eine gewisse Reserviertheit, wie er das ausgedrückt hätte, während Nancy sich diese Zurückhaltung nicht auferlegte. »Die sind doch alle behindert im Kopf«, hatte sie gesagt. Auch das wurde in der Familie unter dem Tourette-Syndrom verbucht und mit einem Verbot belegt. Aber Viktor von Westphalen räumte ein, dass seine Tochter nicht ganz unrecht hatte. Auch er fand, dass jahrhundertelange Inzucht deutliche Spuren in Form eines unerträglichen Standesdünkels bei den von Ledebur-Hellbachs hinterlassen hatte. Er konnte ihre Affektiertheit und Schnöseligkeit nur schwer ertragen, jedenfalls wenn er länger als eine Stunde mit ihnen verbringen musste. Auguste von Westphalen bestand ebenfalls nicht darauf, ihren Vater und ihre Mutter zu sehen. Sie hatten sogar versucht, die Hochzeit zu verhindern.
Auguste nahm jede Gelegenheit wahr, in München die Luft einer Großstadt einzuatmen und mit ihrer Tochter einkaufen zu gehen. Sie bevorzugte Burberry, da die Zeiten von Schiaparelli leider vorbei waren, abgesehen davon, dass sich Schiaparelli in Eibelsdorf schlecht tragen ließ. Auch Versace kaufte sie manchmal, weil alle von der neuen Modelinie schwärmten, aber mit den tiefen Ausschnitten, den opulenten Verzierungen und den grellen Farben hatte sie ihre Schwierigkeiten. Und aus den figurbetonten Kleidern war sie leider auch schon herausgewachsen.
Nancy ging im Zimmer nervös auf und ab und kaute auf ihren Lippen. Sid konnte sich später noch genau an das unangenehme Gefühl erinnern, einfach nur herumzustehen und nicht zu wissen, was er tun sollte.
»Sieht scheiße aus, oder?«, sagte er, aber Nancy antwortete nicht. Stattdessen nahm sie den Telefonhörer und sprach mit Sascha, dem sie den Autoschlüssel gegeben hatte, und bat ihn, das Auto vorzufahren.
Sie raffte ein paar Kleider zusammen und warf sie zusammen mit dem ebenholzschwarzen Anzug aus dem Oberpollinger in die große Versace-Einkaufstüte.
»Geben Sie mir bitte das Telefon«, sagte Nancy zum Rezeptionisten in einem verzweifelt-angespannten Ton, der Sid überraschte.
»Papa? Harry liegt im Krankhaus. Unfall. Hab‘s gerade erfahren. Schrecklich. Ich fahre gleich hin. Ja. Ich rufe dich an, wenn ich was weiß. Nein. Ich muss los. Bis später.«
Sid fragte sich, ob diese Einlage nicht ein bisschen übertrieben war. Sie hätten auch gleich abhauen können, aber Nancy sagte später: »Du hast keine Ahnung.«
»Na dann«, hatte Sid gesagt.
»Soll ich Ihnen ein Taxi rufen?«, fragte der Rezeptionist, aber Nancy winkte ab und eilte auf die Straße. Sascha hielt ihr die Tür auf, sie drückte ihm dankbar den Arm, warf die Tasche auf die Rückbank und startete den Wagen.
Sid atmete tief durch. Im Rückspiegel sah er den Rezeptionisten, der aufgeregt mit den Armen wedelte. Aber nur ein paar Augenblicke später hatte der Verkehr den schwarzen Citroën verschluckt.
»Scheiße war das knapp«, sagte Nancy.
Sid sagte nichts. Nancy war ihm auf der Autobahntankstelle und bei Oberpollinger cool und glamourös vorgekommen. Wie eine Mischung aus Django und David Bowie. Jetzt sog sie hektisch an einer Zigarette und hätte, als sie die Spur wechselte, fast einen VW gerammt.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße«, sagte Nancy. »Meine ganzen Klamotten! Alles weg. Dieses blöde Scheiß-Hotel. Ich könnte kotzen. Einen ganzen Eimer voll!« Wieder schlug sie auf das Lenkrad ein.
Sid dachte gerade daran, dass seine Lederjacke ebenfalls im Hotel lag. Er steckte in einem kobaltblauen Anzug, weil Nancy in der Boutique zu ihm gesagt hatte: »Jetzt zieh ihn doch mal an.«
Und er: »Ach, nicht jetzt.«
»Was geklaut ist, muss man auch anziehen.«
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