Und die ihr Land verließen, nachdem sie Gottes wegen Gewalt erlitten hatten, Wir wollen ihnen wahrlich eine schöne Wohnung im Diesseits geben, und der Lohn des Jenseits ist noch größer. Wüßten sie es nur, jene, die in Geduld standhaft sind und auf ihren Herrn vertrauen! (16:41–42)
Die Auswanderung wird damit nicht nur zu einer Auswanderung in die Freiheit, sondern auch zu einer Befreiung von den Unterdrückern.
Auch die spätere gewalttätige Konfrontation zwischen Medina und Mekka galt dem Propheten als notwendiges Übel, um die Vernichtung seiner Gemeinde abzuwehren. Als im Jahre 627 (5 n. H.) die mekkanischen Aggressoren abermals auszogen, um Medina anzugreifen, kam es zur sogenannten Grabenschlacht, die streng genommen gar keine Schlacht war. Auf Anraten des Muslims Salman Al-Farisi (gest. 657) errichteten die Muslime um Medina einen unüberwindbaren Graben. Hierdurch wurden nahezu jegliche Kampfhandlungen unterbunden.74
Der Gesandte Gottes Muhammad, so der Gelehrte, verstand niemals Krieg als eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, stattdessen versuchte er, durch kluge und pragmatische Diplomatie einen Frieden zwischen Medina und Mekka zu erzielen. Das Ergebnis dieser Bemühungen war der Friedensvertrag von Al-Hudaybiyyah 628 (6 n. H.), der die Beilegung aller Kampfhandlungen für einen Zeitraum von zehn Jahren vorsah. Auf diese Weise, so Maulana Wahiduddin Khan, wurde der Konflikt zwischen Monotheismus und Henotheismus/Polytheimus weg von den Schlachtfeldern auf eine intellektuelle Ebene gehievt, die dem Islam auf der Arabischen Halbinsel mit Blick auf seine dann rasante Ausbreitung zugutekam.75
Als die mekkanische Seite zwei Jahre später vertragsbrüchig wurde, indem ein mit Mekka verbündeter Stamm einen mit den Muslimen verbündeten Stamm angriff, nahmen die Muslime nahezu ohne jegliche Kampfhandlungen Mekka ein. Weder nahm die muslimische Seite Rache an ihren ehemaligen Verfolgern, noch demütigten sie ihre ehemaligen Unterdrücker, noch nahmen sie die Haltung des Siegers ein, sondern der Prophet Muhammad vergab der mekkanischen Bevölkerung und erteilte eine Generalamnestie, um damit der alten Feindschaft ein für alle Male ein Ende zu setzen.76
Für Khan ist es folglich ein gänzliches Missverständnis, wenn Muslime den Propheten als einen Militärführer bewundern, da sich das Leben Muhammads als das Leben eines Mannes liest, der Gewalt eindämmen wollte. Auch die Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong äußerte, dass Militärhistorikern zufolge Muhammad und die ersten Kalifen einzigartig darin waren, ihr Reich mehr durch Diplomatie als mit Gewalt aufzubauen.77
Aber für das Heute gilt: In einer Zeit, in der wir Menschen zu den Schöpfern unserer eigenen globalen Vernichtung geworden sind, sollten Muslime als Gewaltverzichter ein Vorbild für alle Menschen sein. Der indische Gelehrte schreibt:
Heute haben wir letztendlich eine Stufe erreicht, in der jede Form von Gewalt nicht wünschenswert ist. Wahrlich, eine friedvolle Strategie ist die einzige überlebensfähige Lösung. (…) Es ist daher keine Übertreibung zu sagen, dass in der heutigen Zeit ein gewalttätiges Engagement nicht nur eine viel schwerer zu ergreifende Alternative ist, sondern dass sie in der Praxis nicht sinnvoll ist. Dagegen ist die Gewaltlosigkeit nicht nur die viel leichter zu ergreifende Alternative, sondern sie ist im höchsten Maße die effektivere und Resultate erzielendere Methode. Heute ist die friedvolle Handlungsweise nicht nur eine von vielen Möglichkeiten, es ist die einzige praktikable und gewinnbringende Option. Da dem so ist, ist es nur rechtens zu sagen, dass Gewalt verworfen werden kann.78
In Zeiten, in denen der klassische symmetrisch geführte Krieg durch eine asymmetrische Kriegsführung ersetzt worden ist, in denen zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten nicht mehr unterschieden werden kann, in denen der einfache Soldat ausgedient hat und durch Kampfflugzeuge und ferngesteuerte Drohnen ersetzt worden ist und Waffensysteme ausgerichtet sind, möglichst große Zerstörung anzurichten, kann die vom Gesandten Gottes sanktionierte Kriegsethik nicht mehr angewendet werden. Dies bedeutet aber nicht, dass diese hierdurch obsolet geworden ist, sondern, dass der bewaffnete ğihād, gleichwohl es sich bei ihm um Selbstverteidigung handelt, obsolet geworden ist. Kampf, gleichgültig wie begründet, kann durch die heutige Waffentechnologie nur in der Zerstörung der uns anvertrauten Welt münden. Dies werde jedoch, so Khan, zum einen im Qurʾān durch die Bezeichnung fasad, zu Deutsch Verderbnis, (siehe Sure 2, Vers 205) untersagt, und zum anderen habe sich in der Gegenwart gezeigt, dass überall, wo insbesondere Muslime durch den Einsatz von Gewalt eine Veränderung ihrer Lage herbeiführen wollten, diese Länder in Chaos und Rückständigkeit versunken seien.79
Die prophetische Anleitung zu einem gewaltlosen Leben besagt nach Khan:
1) Selbstkontrolle: Der Gläubige soll durch Wachsamkeit und Aufmerksamkeit lernen, sein Gefühlsleben zu beobachten. Er soll nicht zum Sklaven von Gefühlsimpulsen werden, sondern Herr über seine Empfindungen sein. Khan erklärt, dass Gewalt zuallererst in den Gedanken geboren wird, wenn wir negativ und vorurteilsbehaftet über andere denken. Während des Schlafes würden diese Gedanken vom Bewusstsein in das Unterbewusstsein wandern und dort zu einem integralen Bestandteil der Persönlichkeit eines Menschen werden.80 Im Alltag hat dies zur Folge, dass man sich nun gegenüber diesen Menschen in Sprache und Handlungen feindselig verhält. Folglich solle der Muslim seine Persönlichkeit reinigen, was zu Arabisch tazkiya bedeutet,81 indem er kontinuierlich Hassgedanken mittels der Vernunft Einhalt gebietet.82
2) Einladen zum Islam (daʿwa): Der Muslim soll weder dem Krieg noch muslimischen Militärführern huldigen, sondern er soll sich als Friedensstifter und Botschafter des Islam begreifen. Er soll den Menschen nicht Zerstörung, sondern Leben bringen. Er solle es sich zur Lebensaufgabe machen, die Botschaft des Islam und die Aufklärung über den Islam auf barmherzige Weise seinen Mitmenschen zu vermitteln.83
3) Gewaltloser Widerstand: Überall dort, wo Muslime durch einen Aggressor bedroht werden, sollen sie die Methode des gewaltlosen Widerstandes praktizieren. Gewaltloser Widerstand, so Khan, bedeutet nicht Passivität oder inaktiv zu sein, sondern er erfordert die Stärke, Herr über die eigenen Emotionen und das eigene Gewaltpotenzial zu werden. In Gewaltlosigkeit zu leben, selbst im Angesicht des Todes, erfordert höchste Selbstkontrolle. Der gewaltlose Widerstand ist nur insofern passiv, als dass der Gegner nicht physisch angegriffen wird. Aber die Vernunft und die Gefühle des gewaltlosen Aktivisten sind beständig aktiv, den Aggressor zu überzeugen, dass er im Unrecht ist. Gewaltloser Widerstand ist also aktiver gewaltloser Widerstand gegen das Böse.84 Khan verweist auf nachstehende Verse aus der islamischen Offenbarung:85
Wehre das Böse mit Gutem ab! (…) (23:96)
Und wer führt bessere Rede, als wer zu Gott einlädt und das Rechte tut und spricht: „Ich bin einer der Gottergebenen?“ Das Gute und das Böse sind fürwahr nicht gleich. Wehre (das Böse) mit Besserem ab, und schon wird der, zwischen dem und dir Feindschaft war, dir wie ein echter Freund werden. (41:33–34)
Der Gläubige soll sich auch nicht dazu verführen, provozieren und hinreißen lassen, auf erlittenes Leid mit Gegengewalt zu reagieren, sondern er soll die Notwendigkeit des Leids erkennen, um hierdurch ein Gefühl der Scham im Aggressor zu wecken. Dieser soll in sich zu der Einsicht gelangen, dass er in dem Moment, in dem er einem anderen Menschen schadet, seine eigene Menschlichkeit verrät. Daher soll der Muslim Leid mit Standhaftigkeit (ṣabr) begegnen86 und auf Gott vertrauen, der im Qurʾān verspricht:87
Doch wahrlich, mit (jeder) Schwierigkeit kommt (auch) Erleichterung! (94:5)
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