Erlaubnis [zur Verteidigung] ist denen gegeben, die bekämpft werden – weil ihnen Unrecht angetan wurde – und Gott hat gewiß die Macht, ihnen beizustehen; (22:39)
Gott verbietet euch nicht, gegen die gütig und gerecht zu sein, die euch nicht wegen eueres Glaubens bekämpft oder euch aus eueren Häusern vertrieben haben. Gott liebt fürwahr die gerecht Handelnden. (60:8)
Saʿid unterscheidet ableitend aus dem Lebenskontext des Propheten Muhammad zwischen dem gewalttätigen Widerstand einer muslimischen Minderheit in einer nicht muslimischen Gesellschaft, den er verurteilt, und der berechtigten Verteidigung einer souveränen Gesellschaft vor Angriffen von außen.
Für die Gegenwart plädiert er allerdings für den totalen Gewaltverzicht, denn im Zeitalter atomarer, biologischer und chemischer Massenvernichtungswaffen sei jede Form von Krieg irrational, da die Menschheit die Waffen zu ihrer eigenen Vernichtung erbaut habe.
Widersprüchlich hierzu ist allerdings seine Haltung zum bewaffneten Widerstand in Palästina gegen die israelische Besatzung, den er aufgrund seines Gedankenganges verurteilen müsste, aber in einem Interview 1998 de facto nicht tat.20 Gleichwohl er den Palästinensern den gewaltlosen Widerstand ans Herz legte. Gegenwärtig lehnt der bekennende Assad-Gegner wiederum den bewaffneten Kampf in Syrien gegen das Assad-Regime mit den Worten ab, dass jene, die an die Macht der Waffen glauben, nicht an die Macht der Wahrheit glauben würden.21
Die praktische Umsetzung des gewaltlosen Ethos im Islam
Während die Propheten auf Gewalt verzichtet oder zumindest sie einzig und allein auf Grundlage der Selbstverteidigung einer souveränen Gesellschaft stark eingeschränkt haben, legt die Menschheitsgeschichte Zeugnis darüber ab, dass der Mensch, so Saʿid, seit jeher dazu tendiere, ein Anhänger des ersten Mörders zu sein. Damit haben sich die Befürchtungen der Engel bei der Erschaffung des Menschen bewahrheitet, als sie Gott gegenüber äußerten:22
(…) Willst Du auf ihr [der Erde] einen einsetzen, der auf ihr Verderben anrichtet und Blut vergißt? (…) (2:30)
Die intellektuelle Wiedergeburt – nicht nur der Muslime –, sondern aller Menschen bestünde darin, dem gewaltlosen Sohn Adams und seinem Bekenntnis zu folgen, das da lautet:
Wahrlich, erhebst du auch deine Hand gegen mich, um mich totzuschlagen, so erhebe ich doch nicht meine Hand gegen dich, um dich zu erschlagen.
Der Reifungsprozess und Triumph für jeden Menschen bestünde in der Selbstgewissheit, dass ein anderer Mensch ihn zwar töten könne, aber es niemals gelingen wird, ihn selber zu einem Mörder zu degradieren.23 „Und noch immer“, so Saʿid, „kommt die Botschaft dieses Textes bei uns Muslimen nicht an. Aber auch Jesus sagte: ,Und wer dich schlägt auf eine Backe, dem biete die andere auch dar‘, und doch verübten auch Christen Gewalt im Namen der Religion (…).“24
Das Ethos des gewaltlosen Sohnes Adams verpflichte den Muslim dazu:
1) jede Schmähung, jedes psychisch und physisch zugefügte Leid durch das Vertrauen auf Gott (tawakkul ) geduldig zu ertragen. Saʿid verweist hierbei auf folgenden Vers:25
Und warum sollten wir nicht Gott vertrauen, da Er uns doch unseren Weg bereits gezeigt hat? Wahrlich, wir wollen geduldig ertragen, was ihr uns an Leid zufügt, und Gott sollen alle Vertrauenden vertrauen. (14:12)
2) Weiter darf ein Muslim in seinem Handeln nicht Gleiches mit Gleichem vergelten, sondern stattdessen soll er den Hass, der ihm begegnet, durch entgegengesetztes Tun in Liebe umwandeln. Abermals stützt sich Saʿid auf die Offenbarung:26
Das Gute und das Böse sind fürwahr nicht gleich. Wehre (das Böse) mit Besserem ab, und schon wird der, zwischen dem und dir Feindschaft war, dir wie ein echter Freund werden. (41:34)
3) Soll der Muslim die Strukturen pathologischer Gewalt erforschen und durch gesellschaftliche Erziehung und Reformen durchbrechen. Saʿid führt den Vers heran:27
(…) Gewiß, Gott verändert die Lage eines Volkes nicht, solange sie sich nicht selbst innerlich verändern. (…) (13:11)
Hierzu reiche es aber nicht aus, sich lediglich mit religiösen Texten zu beschäftigen, sondern das Studium der menschlichen Geschichte müsse herangezogen werden. Ein Gang durch die Geschichte würde den Muslimen helfen zu erkennen, dass Gewalt strukturell nur durch einen demokratischen Rechtsstaat eingedämmt, domestiziert und reguliert werden könne.28
Ein Rechtsstaat sei der Gerechtigkeit als ausgleichendes Maß zwischen den Menschen verpflichtet und würde daher Gewalt überflüssig machen. In Saʿids Denken stellt der Rechtsstaat den Übergang vom Primat des Stärkeren zum Primat des Rechts dar.29
4) Der Muslim soll den Pluralismus in der Welt als notwendige Folge des Fortschreitens menschlicher Geschichte und Entwicklung akzeptieren. Jedes Bemühen, den Islam zu ideologisieren, ihn in eine unlebendige statische religiöse Konformität und starre soziale Ordnung zu transformieren, liefe der menschlichen Erfahrung von Dynamik zuwider.30
So erteilt Saʿid jeglicher singulären Islamauslegung eine Absage. Bereits der mittelalterliche Gelehrte Ibn Taimiyya (gest. 1328) hätte anerkennen müssen, dass ständig alles auf den Qurʾān und die sunna zurückführen zu wollen oder dort belegt zu finden, keine praktikable Lösung sei. Schließlich habe jede islamische Schule, ob theologischer oder rechtlicher Prägung, ihre eigene Hermeneutik.31 Ebenso habe der vierte Kalif des Islam, Ali ibn Abi Talib (gest. 661), es unterlassen auf Grundlage des Qurʾān mit den extremistischen Kharidjiten zu diskutieren, da dieses aufgrund ihrer ganz anderen Interpretationsweise zwecklos sei und nur in ein Nebeneinanderher-Reden gemündet hätte.32
Zwischen den Zeilen äußert Saʿid damit natürlich auch seine Kritik an gewalttätigen Gruppierungen und deren Absolutheitsansprüchen: Es könnten keine Reformen zum Besseren von jenen erhofft werden, deren Vorstellungskraft nicht weiter reiche, als Veränderungen durch Mordanschläge und Revolutionen herbeizuführen, da diese sich damit in die Tradition des ersten Mörders begeben, mit der Zivilisation brechen und die Menschheit wieder in den Naturzustand zurückführen, wo das Recht des Stärkeren vorherrscht. Wie kann also von ihnen eine bessere Welt erhofft werden?33 Es könne keine legitime und friedvolle Gesellschaft geschaffen werden, wenn man selber zu Gewalt, Einschüchterung und Zwangsmitteln greife, um die eigenen Überzeugungen durchzusetzen. Eine Revolution ermutige nur andere, die gesellschaftliche Ordnung auf gleichem Wege abermals zu stürzen. Dadurch entstünde ein bösartiger Kreislauf von Umstürzen, der letztendlich die Entstehung von Diktaturen begünstige. Saʿid verweist hierbei auch auf die islamische Frühzeit:
In der islamischen Geschichte finden wir die vier rechtgeleiteten Kalifen, die nach dem Propheten regiert haben. Keiner von ihnen ist durch Gewalt an die Macht gekommen und keiner von ihnen hat die Macht seinen Söhnen vererbt. Dennoch starben drei von ihnen durch Mord. Und nach dem vierten Kalifen kehrte die Macht zum Schwert und zur Herrschaftsvererbung zurück. Bis heute lebt die islamische Welt im Schatten des Schwertes, des Putsches und der Vererbung der Herrschaft.34
Stattdessen sollen Muslime, die in einem Unrechtsstaat leben, so handeln, als sei er ein Rechtsstaat, um zu versuchen, ihn genau dazu zu machen.35
5) Der Muslim soll mittels transparenter Organisationen und Stiftungen eine islamische Infrastruktur schaffen, durch die zum Islam eingeladen, das Gute geboten und das Schlechte verurteilt wird. Damit würden Muslime zeitgemäß dem prophetischen Lebensmodell folgen und als demokratische Akteure Teil des öffentlichen Diskurses sein.36
6) Muslime dürfen das islamische Engagement in der Gegenwart niemals von dem geschichtlichen Wissen trennen, dass die umma oftmals nicht entsprechend der prophetischen Handlungsmaxime gehandelt hat. Dies sollten Muslime sich schonungslos eingestehen und dafür auch Verantwortung tragen. Gerade durch Letzteres beweise sich der Mensch als würdig, Gottes Statthalter auf Erden zu sein. Saʿid verweist auf die islamische Urgeschichte, als Adam und seine Frau für ihre Schuld die Verantwortung übernahmen, indem sie Gott um Vergebung baten, statt die Schuld aufeinander abzuwälzen und von sich zu weisen (siehe Sure 7, Vers 23).37
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