US
Ja. Innerhalb einer Woche war nahezu alles dem Erdboden gleich gemacht.
Ich fragte mich voller Angst und Sorge: Wo sind meine Eltern? Die Brücke war zerstört. Wie konnte ich zu meinen Eltern kommen? Wo hielten die sich auf? Es hat sich dann herausgestellt, dass meine Eltern auch geflüchtet waren. Wohin, wusste ich natürlich nicht. Ich habe sie also nicht finden können.
EF
Hattest du nicht die Möglichkeit, sie per Handy zu kontaktieren?
US
Nein. Alle Telefonnetzwerke waren lahmgelegt. Es gab auch keine Elektrizität.
Ganz verzweifelt fragte ich mich: Was soll ich jetzt machen? Wo soll ich hin?
Nach langem Ringen entschied ich mich, mit den Kindern in die Türkei zu fliehen. Wir kamen dort in ein Flüchtlingslager. Und zum großen Glück fand ich da auch meine Eltern.
Ich blieb dort zwanzig Tage lang. Dann entschied ich mich, gemeinsam mit meinen Kindern zurück nach Syrien zu reisen.
Ich konnte es einfach nicht schlucken, nicht verwinden, dass man mich einen „Flüchtling“ nannte. Oft habe ich geweint und mir gesagt: Wie kann es sein, dass wir vorher in Würde gelebt haben und jetzt „Flüchtlinge“ genannt werden? Ich konnte es einfach nicht ertragen, wollte zurück. Mir war es lieber, in meinem eigenen Land, in meinem Heimatland zu sterben als hier im Flüchtlingslager das Leben zu fristen.
EF
Bist du wieder in dein Dorf zurückgegangen? Wie war es dort? War dein Haus noch da?
US
Alles war noch da. Gott sei Dank! Zu diesem Zeitpunkt hatte das Militär die Kontrolle über das Dorf übernommen. Danach normalisierte sich die Lage halbwegs. Lästig war nur, dass so viele Militärkontrollpunkte errichtet wurden. Das hieß: Jedes Mal, wenn ich Gemüse einkaufen wollte, wurde ich mindestens fünfmal aufgehalten und durchsucht.
EF
Waren andere auch wieder zurückgekehrt? Nachbarn?
US
Nur die wenigsten. Es war wie in einer unheimlichen und verlorenen Geisterstadt.
EF
Wie lange bist du mit deinen Kindern dort geblieben?
US
Ich blieb dort ein Jahr unter diesen Umständen.
EF
War da nicht eine ständige Spannung und Angst?
US
Ja. Und wie! Die Angst hat uns Tag und Nacht begleitet. Immer wieder gab es auch bewaffnete Auseinandersetzungen.
EF
Was ist dann passiert?
US
Dann sind schreckliche Ereignisse vorgefallen. Zuerst wurde Faris an einer dieser Checkpoints festgenommen. Nach drei Monaten konnte ich ihn aus dem Gefängnis herausholen, nach langem Ringen, nach vielen Tränen. Fast mein ganzes Hab und Gut musste ich dafür verkaufen. Faris, noch fast ein Kind, war nach den drei Monaten sehr krank und konnte kaum mehr laufen, weil er in einer Isolationszelle festgehalten worden war, ohne Licht, unter ganz schwierigen Umständen. Sein Fieber wollte nicht unter 40 º Celsius heruntergehen. In den Nächten hat er schreckliche Albträume gehabt. Er ist schweißgebadet aufgewacht und hat geschrien. Zuerst wusste ich nicht, dass er gefoltert worden ist. Nachdem ich ihn ins Bad gebracht hatte, sah ich die vielen Spuren von brennenden Zigaretten an seinen Beinen und an den Hüften.
Knapp einen Monat später wurde mein ältester Sohn festgenommen und eingesperrt. Ich wusste aber nicht, wo er war. Er war verschollen. Niemand wusste, wo er war. Fünf Jahre ist er jetzt schon im Gefängnis. Erst seit drei Monaten, sprich seit April 2016, weiß ich, wo er gefangen ist und dass es ihm sehr schlecht geht.
EF
Kann das Komitee vom Roten Kreuz deinen Sohn denn nicht besuchen?
US
In Syrien gibt es so viele Gefängnisse, die geheim sind. Niemand, nicht einmal das Rote Kreuz, darf dorthin. Die Menschen, die dort festgehalten werden, sind wie verschollen. Viele Gefangene müssen dort in extremen Situationen leben. Sie werden schlecht behandelt, gefoltert, dürfen keine Kontakte zu ihren Familien aufnehmen. Manche sterben in diesen Gefängnissen auch. Sie sind für immer vergessen und vermisst.
EF
Also zuerst wurde Faris eingesperrt. Dann nach langem Ringen konntest du ihn rausholen. Dann sperrten sie deinen zweiten Sohn ein. Er ist bis jetzt noch im Gefängnis?
US
Ja. Aber nicht nur das! – Sieben Monate später, nachdem Sharif verschollen war, wurde ich selber für einen Monat festgenommen und eingesperrt. Im Morgengrauen klopfte es an die Tür. Als ich aufmachte, standen da zwei in Militäruniformen gekleidete Männer und fragten: „Wo ist dein Sohn Sharif?“ Ich antwortete: Ich weiß es nicht. „Also dann bitte sofort mit uns kommen!“
Damals war nur meine siebenjährige Tochter Fida bei mir. Sie weinte und schrie: „Bitte nehmt mir meine Mutter nicht weg!“ Die Soldaten beruhigten das Kind und meinten: „Keine Angst, deine Mutter kommt in zwei Stunden wieder.“ Die Soldaten baten mich, mein zweites Kopftuch mitzunehmen. Beim Rausgehen benutzten sie mein zweites Kopftuch dann dazu, meine Augen zu verbinden.
Fida war nun ganz alleine. Niemand war da. Gott sei Dank wusste sie, wo das Haus der Frau ihres Bruders ist, und ging weinend dahin.
EF
Wer hat sich um deine Kinder gesorgt?
US
Samira und Faris flüchteten damals, kurz bevor ich festgenommen worden war, in die Türkei zu ihrem Vater, der einen Herzinfarkt erlitten hatte. Amir war ja in einem Gefängnis verschollen. Und die beiden Kleinen, Sharif und Fida, waren allein mit mir. Die Kleine wurde von einer mir bekannten Frau behütet. Scharif drehte durch. Er geriet unter den Einfluss einer schlechten Jugendgruppe und war verloren, vollgedröhnt mit Drogen und Alkohol. Er war erst elf Jahre alt und konnte nicht mit der Tatsache umgehen, dass seine Mutter weg war. Er war total frustriert.
Die Kinder wussten nicht, wo ich war, wie lange ich im Gefängnis bleiben werde, ob ich lebendig oder tot war, ob sie mich jemals wieder treffen würden. Ich war verschollen. Fida ist bis heute sehr geschockt von diesem Ereignis. Sie übernachtet jeden Abend bei mir im Bett – ihre Arme hat sie dann eng um mich geschlungen. Wenn ich nachts nur kurz auf die Toilette muss, ist sie voller Angst und Schrecken und fragt mich: „Wohin gehst du?“ Das ist bis heute so!
Das Gefängnis, in das sie mich gebracht haben, war früher eine öffentliche Toilettenanlage, deren Kabinen dann zu Isolationszellen umgebaut wurden. Kannst du dir vorstellen, wie klein so eine Zelle ist? – Ohne Licht, ohne Bett, ohne Decke. Manchmal war ich ganze Tage ohne Wasser und Essen. In der Nacht konnte ich ja nicht einmal meine Beine ganz ausstrecken. Ich musste in Kinderstellung schlafen. Bis heute habe ich dadurch Schmerzen in meinen Beinen. In den ersten drei Tagen musste ich sogar noch diese winzige Zelle mit einer Mutter und ihrer zweijährigen Tochter teilen!
Basima und Djamila, die dabei sitzen, öffnen ganz weit die Augen und sagen: „Was! Auch ein Kind war da eingesperrt?“
US
Ja, sogar Kinder wurden eingesperrt. – Als ich zur Toilette musste, habe ich eine halbe Stunde wild an der Tür geklopft, bis irgendjemand aufmachte. Sehr oft habe ich auf mich selber uriniert, weil ich es nicht mehr aushalten konnte.
Nach drei Monaten wurde ich entlassen. Der Gefängniswärter ermöglichte es mir, einen Anruf zu machen. Ich rief sofort die Ehefrau meines ältesten Sohnes an.
Als ich endlich nach Hause kam, umarmte ich als Erstes meine Kinder.
Nach allem, was geschehen war, blieb ich dennoch in meinem Dorf. Der Gedanke, dass mein ältester Sohn noch im Gefängnis verschollen war, hat mich nicht losgelassen. Jeden Tag ging ich von einem Gefängnis zum anderen und suchte ihn. Von Damaskus bis nach Homs. In jeder Stadt habe ich gesucht. Oft während Bombardierungen und Schießereien. Doch ich bekam kein Lebenszeichen von Amir.
Ich habe mir sogar einen Rechtsanwalt genommen, hatte aber kein Geld, um ihn zu bezahlen. Deshalb habe ich mich entschieden, meinen Ehering zu verkaufen.
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