Wenn du in deine Kriege ziehst, denk an den Andern
und vergiss nicht jene, die Frieden fordern.
Wenn du deine Wasserrechnung begleichst, denk an die Andern,
die ihr Wasser aus den Wolken saugen müssen.
Wenn du zu deinem Hause zurückkehrst, deinem Hause, denk an den Andern und vergiss nicht das Volk in den Zelten.
Wenn du schlafen willst und die Sterne zählst, denk an den Andern,
der hat keinen Raum zum Schlafen.
Wenn du dich mit Wortspielen befreist, denk an den Andern
und denk an jene, die die Freiheit der Rede verloren.
Wenn du an die Anderen in der Ferne denkst, denke an dich,
und sage: Wäre ich doch eine Kerze im Dunkeln.
Mahmud Darwisch, *1941 in al-Birwa bei Akko, Palästina, † 2008 in Houston/Texas. Darwish wurde als die poetische Stimme seines Volkes bezeichnet. Das Gedicht wurde übersetzt von Hakam Abd al-Hadi, *1939 in Jenin, Palästina
Die Mutter mit dem Löwenherz
Um Sharif aus Syrien
Es ist Samstagmorgen, wir sitzen im Büro des Deutschen Roten Kreuzes in der Erstaufnahmeeinrichtung in Freiburgs alter Stadthalle.
Um Sharif und zwei andere Frauen, Basima und Djamila, sind da. Sie möchten ihre Geschichte erzählen.
Als ich fragte, ob es Um Sharif lieber ist, dieses Gespräch alleine und vertraulich mit mir zu führen, meinte sie: „Nein! Die anderen Frauen können gerne dabei sein, denn hier ist es wie in einer Familie.“
Wir trinken frischen Kaffee und essen ein paar Nüsse, die auf dem Tisch liegen. Im Orient ist es ein Code, eine Sitte, eine Gewohnheit, wenn ein Gast kommt, ihm etwas zu essen zu geben und ihm Kaffee oder Tee anzubieten.
Kurz danach fragt mich Djamila, ob es okay ist, wenn die Bürotür geschlossen wird. – „Klar doch!“ antworte ich.
Dann nehmen die drei Frauen ihre Kopftücher ab. „Heiß ist es hier, gell?“ bemerke ich.
Die zwei Frauen meinten darauf: „Ja, endlich bläst etwas Luft durch die Haare!“
Wir machen es uns so gut wie möglich gemütlich, und das Gespräch beginnt langsam.
Elizabeth Fleckenstein (in der Folge EF)
Um Sharif, aus welchem Land kommst du?
Um Sharif (in der Folge US)
Ich bin aus Syrien. Habe in der Provinz Idlib, in einem Dorf mit Namen Ladiie gelebt.
EF
Du bist Mutter. – Wie viele Kinder hast du?
US
Fünf Kinder. Amir, Faris, Samira, Sharif, Fida. Eigentlich sechs. Aber ein Kind von mir ist an Krebs gestorben.
Es tritt plötzlich Stille ein. Die beiden anderen Frauen blicken nach unten … Um Sharif fährt fort …
Wir hatten ein gutes Leben. Ich habe mit meinen Kindern gelebt, und konnte es kaum erwarten, meine Kinder aufwachsen zu sehen. Wir hatten ein Leben, von dem man eigentlich nur träumen kann. Dann hat sich mein erstgeborener Sohn verlobt. Und er und sein Bruder fingen an zu arbeiten.
Ich war auch berufstätig, hatte eine gute Arbeit. Ich war Friseurin. Den Friseursalon habe ich innerhalb meines Hauses eingerichtet. Damit konnte ich mich und meine Familie versorgen. Es fehlte uns an nichts. Alhamdulillah! Dank sei Gott!
Wir konnten ausgehen, Ausflüge machen. Das Haus war mein Eigentum. Ich musste keine Miete zahlen.
Aber dann kam das Jahr 2011. Plötzlich fing es mit dem Krieg an.
EF
Wie alt waren deine Kinder damals?
US
Kurz bevor der Krieg angefangen hat, hatte mein ältester Sohn seinen Militärdienst gerade beendet. Er war gerade neunzehn Jahre alt geworden. Faris war sechzehn, Samira war vierzehn. Meine Kleinsten, die mit mir gegangen sind: Sharif war damals elf und Fida fünf Jahre alt.
Der Krieg fing zuerst in Daraa an. Als wir von den Unruhen gehört haben, dachten wir uns: Es wird sich wieder bald beruhigen! Doch das war leider nicht der Fall. Genau eine Woche später griffen die bewaffneten Auseinandersetzungen auch auf unser Dorf Ladiie über.
Die Fronten verliefen damals noch zwischen dem Militär und der Freien Syrischen Armee. Das geschah im Monat Ramadan 2011.
EF
Also war es im August?
US
Genau! Alle haben gefastet und wussten oder begriffen nicht wirklich, was um uns herum geschah.
Ich war damals beim frühen Morgengrauen in meinem Haus.
Plötzlich klopft es an der Tür, und ich höre Stimmen von draußen sagen: „Steh’ auf, nimm deine Kinder und geh’!“ – Die Stimmen wurden hektischer: „Schnell, schnell, schnell! Geh’! Es kommt hier gleich zu einer bewaffneten Konfrontation. In der Nachbarschaft ist schon fast niemand mehr da. Geh’ raus, verschwinde, fliehe von hier!“
Doch wohin sollte ich denn fliehen? Wer verlässt schon schnell und gern sein Haus und sein Eigentum? Wohin sollte ich denn fliehen?
Überstürzt, ohne viel nachzudenken, packte ich meine fünf Kinder und ging raus. Wir liefen schnell auf die freien Felder. Drei Tage lang waren wir in den Feldern. Aber wir waren von bewaffneten Männern umzingelt. Wir konnten nicht zurück in unsere Häuser. Wir ernährten uns von den Früchten der Felder.
Manchmal aßen wir Gräser oder Pflanzen, von denen wir wussten, dass sie essbar waren.
Nach diesen drei Tagen wurde uns vom Militär mitgeteilt, dass wir zwei Stunden hätten, um die Felder zu verlassen. Wer dennoch da bleiben würde, würde von den Regierungstruppen festgenommen und als Teil der Opposition angesehen.
Das Militär warnte uns und sagte: „Passt auf, dass ihr nicht von einer verirrten Kugel getroffen werdet! Es gibt Heckenschützen!“
Wir entschieden uns, dicht von Mauer zu Mauer zu laufen.
Alle Bewohner, die sich geweigert haben zu fliehen, wurden festgenommen und ins Gefängnis gesteckt.
EF
Das heißt, die Opposition hat sich bei der Zivilbevölkerung versteckt und Schutz gesucht, sie praktisch als lebenden Schutzschild missbraucht.
US
Genau. Das hat uns und anderen am meisten geschadet. Viel Leid ist unschuldigen Menschen damals zugefügt worden. Deswegen sind viele Menschen in der Folge auch einfach geflohen.
EF
Was ist dann mit euch passiert?
US
Nachdem wir von Mauer zu Mauer vorsichtig entlanggeschlichen waren, um uns vor Heckenschützen zu verbergen, fand ich endlich ein Taxi. Gott hat uns dieses Auto geschickt. Der Chauffeur hat drei Familien ins Taxi gestopft. Meine Jungs quetschten sich in den Kofferraum des Autos.
EF
Was geschah mit euren Sachen, die ihr zurücklassen musstet? Konntet ihr etwas mitnehmen?
US
Wir konnten nichts mitnehmen, gar nichts. Wir hatten nur die Kleidung am Leib, die wir vor der Flucht anhatten. Das war es. Besonders schlecht war es für die, die ihren Pass vergessen hatten und das Geld, vor lauter Angst und Panik wegen des Lebens ihrer Kinder. Klar, was dann passiert ist: Die Häuser wurden geplündert. Alles wurde geraubt. Alles, was wir einst hatten.
Es war eine schreckliche Zeit. Viele Menschen wurden getötet. Wir sahen LKWs, die vollgeladen waren mit Leichen. Niemand wusste, wer sie sind. Sie wurden in Massengräber gebracht und dort anonym verscharrt.
Die Straßen und die Märkte verwandelten sich in Geisterstätten. Alles war leer und öde geworden.
Du weißt doch, wie es ist, wenn es wirklich so richtig regnet? So sind die Kugeln auf uns heruntergeprasselt, um uns herum geflogen.
Ich hatte das Ziel, nach Idlib zu meinen Eltern zu flüchten.
EF
Ist dir das gelungen?
US
Nein. In Idlib war es noch viel schlimmer. Wir kamen bis an die Brücke, die nach Idlib führte. Doch die Brücke war schon zerstört worden. Ich konnte von dort aus die Stadt sehen: Totale Zerstörung! Alles war schwarz und trostlos.
EF
Und diese Zerstörung geschah innerhalb weniger Tage?
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