AUF DER SUCHE DANACH, WAS MÖGLICH IST
Obwohl ihr der Anfängerkurs gefallen hatte, wurde ihr zunehmend unbehaglich zu Mute bei dem, was sie in dem Kurs für Fortgeschrittene sah. Man konnte häufig beobachten, wie Hunde am Halsband durch den Raum gezogen und angeschrien wurden oder bei heftigen Leinenkorrekturen den Halt verloren. Sie wollte das nicht mit ihrem Hund machen, obwohl die Trainerin darauf bestand, „dass es so gemacht werden muss“. Wendy nahm nur noch unregelmäßig am Kurs teil und nutzte die Situation, um so mit Chance zu arbeiten, wie sie es wollte. Sie versuchte, nicht zu sehen, was mit den anderen Hunden geschah.
Eines Tages konnte Wendy nicht mehr ignorieren, was sie sah. Ungläubig und entsetzt sahen sie und Chance, wie die Trainerin einen jungen Hund ins Ohr kniff, um ihn zu zwingen, das Maul zu öffnen und ein Apportel in den Fang zu nehmen. Das ist eine verbreitete Technik, die seit Jahrzehnten verwendet wird und von denen heiß verteidigt wird, die sie als die einzige zuverlässige Methode für das Training des Apportierens auf Kommando einsetzen. In seinem Schmerz und seiner Verwirrung spannte der Hund seine Kiefer noch fester an und kämpfte, um sich zu befreien. Die Trainerin nannte den Hund besonders stur und wies den Besitzer des Hundes an, ihr zu helfen und den Hund gleichzeitig in das andere Ohr zu kneifen. Der Hund schrie aus Protest und versuchte, sich freizukämpfen. Die Trainerin gab jedoch nicht auf, bis der Hund nach einigen Minuten erschlaffte. Wendy betrachtete den Hund, der nun benommen auf dem Boden lag, die Augen angst- und schmerzerfüllt, und fühlte sich krank. Sie sah zu Chance hinunter, um ihm zu versprechen, dass sie ihm so etwas unter keinen Umständen antun würde. Als der Hund sie ansah, sah sie eine ungeheure Traurigkeit in seinem Gesicht. In ihrem Kopf hörte sie ihn deutlich fragen: „Warum sind wir hier?“ Das war eine sehr gute Frage, und Wendy kannte die Antwort. Sie kehrte nie in diesen Ausbildungskurs zurück.
Obwohl Chance bereits seinen ersten Obedience-Titel errungen hatte, verlor Wendy – da sie keinen Trainer finden konnte, dessen Methoden ihr richtig und angenehm erschienen – das Interesse am formellen Obedience-Training. Sie war jedoch noch immer tief beunruhigt über Chances Neigung wegzulaufen. Jedes Mal wenn er weglief, konnte sie sehen, dass sein Geist und sein Körper nicht mehr miteinander in Verbindung standen. Seine Augen waren leer und sein Körper floh in Panik vor dem, was ihn aus der Fassung gebracht hatte. Er kehrte erst zu ihr zurück, nachdem er sich beruhigt hatte, es sei denn, sie oder jemand anderes fing ihn vorher ein. Wendy wusste, dass sein Leben in Gefahr war, wenn er wegrannte. Sie lebte in einem Vorort, und so war es nur eine Frage der Zeit, bis er von einem Auto angefahren und verletzt oder getötet würde. Aus Angst um seine Sicherheit hatte Wendy alles versucht, was ihr verschiedene Trainer vorgeschlagen hatten, jedoch ohne Erfolg. Manchmal rannte er noch immer, als ob sein Leben davon abhinge. Obwohl ihre Erfahrungen mit dem Training ihren Glauben an Trainer im Allgemeinen erschüttert und sie Trainern gegenüber misstrauisch gemacht hatte, suchte sie eine bekannte Trainerin und Autorin auf, die einen „motivierenden“ Ansatz versprach. Nachdem sie kurz mit Chance gearbeitet hatte, sagte sie Wendy, dass nur ein Elektrohalsband sein Leben retten könne. Zögernd willigte Wendy ein.
Die private Übungsstunde begann harmlos. Die Trainerin befestigte das Halsband sorgfältig an Chances Hals und schlug dann vor, eine halbe Stunde zu warten, bis der Hund das neue Halsband vergäße, bevor sie mit ihm auf einem großen eingezäunten Feld arbeiten würden. Während sie warteten, fiel Wendy auf, dass Chance bereits Zeichen von Stress zeigte, obwohl noch nicht viel passierte. Seine Ohren, die normalerweise interessiert aufgestellt waren, zeigten flach zur Seite, in einer Position, die sie als „Flugzeugohren“ bezeichnete. Das war kein gutes Zeichen. Auf dem Feld wurde er sogar noch besorgter, als Wendy auf Anweisung der Trainerin die Leine abnahm und Chance befahl, sich zu setzen und in der Position zu bleiben, während sie sich etwa sechs Meter entfernte.
„Ruf ihn!“, sagte die Trainerin, was Wendy tat. Als die Worte ihren Mund verließen, wusste sie bereits, dass der Hund wie von Sinnen war. Seine Augen wurden auf vertraute Weise leer. Die Ohren waren fest nach hinten am Kopf angelegt, Chance rannte an Wendy vorbei und rannte außer sich im Kreis am Zaun des Felds entlang.
„Ruf ihn noch einmal!“, drängte die Trainerin, aber der Hund nahm Wendys Rufen nicht wahr und rannte weiter und weiter. Die Trainerin drückte den Knopf auf der Fernbedienung, die ein Signal an das Halsband sendete. Als der Elektroschock einsetzte, sprang Chance hoch, schrie und knurrte überrascht und schmerzvoll. Er verdrehte sich in der Luft, als er verzweifelt versuchte, in das Halsband zu beißen. Mit der Bemerkung: „Er übertönt Sie wahrscheinlich mit seinem Gejaule und kann Sie daher nicht hören“, wies die Trainerin Wendy an, ihn wieder und wieder zu rufen, aber nichts durchdrang Chances Entsetzen. In dem Moment wurde Wendy bewusst, dass man einen Hund, den man liebt, nicht so behandelt. Ohne zu beachten, was die Trainerin sagte, fing Wendy den erregten Hund ein und schloss ihn in die Arme. Erst da nahm die Trainerin ihren Finger vom Knopf – sie hatte Chance die ganze Zeit Elektroschocks verpasst.
„Das sollte sein Gehirn gebraten haben“, meinte die Trainerin zufrieden und fügte hinzu, dass in einigen Monaten eventuell eine weitere Übungsstunde zur Auffrischung nötig sei. Sie wies darauf hin, wie erfolgreich diese Trainingsstunde gewesen sei. Tatsächlich beobachtete Chance Wendy jetzt ängstlich und der Hund ließ sich nicht mehr dazu bewegen, weiter als ca. einen Meter von ihr wegzugehen. Es stimmte, dass das Wegrennen jetzt nicht mehr auftrat. Zu diesem Zeitpunkt war Wendy noch nicht klar, dass es durch ein neues Verhalten ersetzt wurde. Nach dieser Übungsstunde war Chance nicht mehr bereit, in einer Position zu verharren, selbst wenn Wendy nicht weiter als bis zum Ende einer zwei Meter langen Leine ging. In den darauf folgenden Monaten musste Wendy auf die winzigen Schritte des Welpentrainings zurückgreifen, um sein Vertrauen wieder aufzubauen, das in den wenigen schrecklichen Sekunden zerstört worden war. Schlimmer noch, als Chance wieder erfolgreich das Kommando „bleib“ ausführte, trat das Wegrennen noch stärker auf als zuvor. Jetzt allerdings rannte er in jeder Situation davon, ohne die vorherigen Warnzeichen, die Wendy früher auf ein potentielles Problem hinwiesen.
Über zwei Jahre später standen sie auf meinem Übungsfeld, das gesammelte Gewicht von Fehlern und Missverständnissen zwischen ihnen wog schwer. Von Schuldgefühlen wegen dem, was sie zugelassen hatte, geplagt, hatte Wendy sich langsam mit der Tatsache abgefunden, dass Chance ein eingeschränktes Leben haben würde. Nur die sanfte Beharrlichkeit eines gemeinsamen Freundes hatte sie überzeugt, dass ich helfen könne, ohne Chance irgendwie zu verletzen. Nachdem sie an einem meiner Seminare teilgenommen hatte, um mich bei der Arbeit zu beobachten, hatte Wendy zugestimmt, mich mit Chance aufzusuchen. Als ich Wendy und Chance beobachtete, wie sie zu meinem Trainingsfeld gingen, hatte ich keine Zweifel, dass sie ihn liebte und er sie. Aber aus lebenslanger Erfahrung mit den Fehlern, die im Zusammenhang mit Tieren gemacht werden, weiß ich, dass Liebe alleine nicht immer ausreicht, damit jemand dorthin gelangt, wo er sehnsüchtig hingelangen möchte. Ich verstand, wie verwirrend es war, verloren am Ende des Weges zu stehen, der in gutem Glauben eingeschlagen worden war, jeder Schritt getrieben von dem tiefen Wunsch, an einen Ort zu gelangen, der so ganz anders aussah als dieses unerwartete Ziel. Den von ihr beschrittenen Weg mit seinen Biegungen und Kurven kannte ich nur zu gut. Aber ich kannte auch den Rückweg. Ich wusste, dass alles, was Wendy erkennen musste, um ihren eigenen Weg zurückzufinden, dorthin, wohin immer sie gehen wollte, in einem einfachen Satz zu finden ist: Was zwischen einem Menschen und einem Tier möglich ist, ist nur innerhalb einer Beziehung möglich .
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