Smith & Carlos (TV-Standbild; Bearbeitg.: Ruud Englebert)
Tommie Smith und John Carlos bewiesen Mut und Charakter, denn sie konnten sich denken, welche Reaktionen ihr Handeln auslösen würde. Sie mussten Mexiko sofort verlassen und wurden danach in den USA von vielen Menschen angefeindet. Doch irgendwann drehte sich der Wind, heute werden sie verehrt. Kürzlich sagte Carlos in einem Spiegel-Interview, „1968 ging es darum, Menschlichkeit einzufordern. Fast jeder Konflikt lässt sich darauf zurückführen, dass Menschen von oben dirigieren und andere einstecken müssen.“ Der Olympiaprotest geschah Mitte Oktober ’68. Drei Wochen später pirschte sich die Journalistin Beate Klarsfeld bei einer CDU-Versammlung in Berlin an Bundeskanzler Kiesinger heran, schlug ihm mit der Hand ins Gesicht und beschimpfte ihn als Nazi. Mit dieser Aktion wollte sie darauf aufmerksam machen, dass unser amtierender Bundeskanzler ein ehemaliger Nazi war. Ich lehne ja eigentlich Gewalt ab, aber in diesem Fall fand ich sie angebracht. Diese Aktion sorgte für weltweite Schlagzeilen und trug dazu bei, dass die Verfolgung von Naziverbrechern neuen Schwung bekam. Der Schriftsteller Heinrich Böll schickte Beate Klarsfeld nach ihrer Tat fünfzig rote Rosen. Irre gut, dachte ich. Das sprach mir genau aus dem Herzen.
Die Musikschule interessierte mich immer weniger, und mir war klar, wohin ich wollte: nach Berlin! Das war der angesagte Ort. Berlin bedeutete für mich Freiheit! Freiheit von der Schule in Lübeck. Freiheit von meinem Elternhaus und – ganz wichtig – Freiheit von der drohenden Gefahr zum Bund eingezogen zu werden, also zum Wehrdienst bei der Bundeswehr. Und die einfachste Lösung, den Wehrdienst zu umgehen, war damals, seinen ersten Wohnsitz in West-Berlin anzumelden. Für Berlin galt zu dieser Zeit der Vier-Mächte-Status – USA, England, Frankreich und UdSSR – deshalb gehörte der Westteil der Stadt streng genommen nicht zur Bundesrepublik Deutschland, und die Bundeswehr hatte keinen Zugriff auf Berliner Bürger. Vielleicht war das auch der Grund dafür, dass Berlin zur Hauptstadt der APO wurde, lauter Studenten, die keine Lust hatten, zur Bundeswehr zu gehen. Berlin war auch deswegen für mich mit Freiheit verbunden, weil es dort die Demos, die Hippies, die Wohngemeinschaften, die Kommunen gab – die ganze antiautoritäre Bewegung eben, man hörte davon in den Nachrichten, ich las davon in Zeitschriften wie Der Spiegel oder Konkret, und es hatte eine ungeheure Anziehungskraft. Ich träumte, wie viele andere auch, von einem selbstbestimmten Leben, ohne mich irgendwelchen Autoritäten beugen zu müssen. In den Osterferien ’69 flog ich zum ersten Mal nach Berlin, um meine Schwester Barbara zu besuchen, die dort zusammen mit ihrem Freund Jens lebte. Jens Johler hatte ich schon im Sommer ’67 kennengelernt, als die beiden, sie waren damals noch Schauspieler in Dortmund, in unserem Häuschen an der Schlei Urlaub machten. Ich weiß noch, dass sie versucht hatten, meine Begeisterung für die Beatles auszunutzen, um mein Englisch zu verbessern. Wir haben zusammen den Text von With a Little Help from My Friends übersetzt; natürlich durchschaute ich diesen pädagogischen Trick, aber es interessierte mich trotzdem. Im August ’68 waren die beiden von Dortmund nach Berlin umgezogen, nachdem sie sich mit einem Essay Über den autoritären Geist des deutschen Theaters ihre Schauspielerkarrieren vermasselt hatten. In Berlin hatten sie sich nach alternativen Theatergruppen umgesehen und dabei auch das Hoffmanns Comic Teater kennengelernt. Als ich nach Berlin kam, hausten sie in einer kleinen Anderthalb-Zimmer-Wohnung in der Admiralstraße in Kreuzberg.
Berlin gefiel mir auf Anhieb, das Stadtfeeling, die Schwingungen dort, das groovte für mich; auch die Berliner mit ihrer leicht prolligen Art mochte ich, „Herz mit Schnauze“, wie man so sagt. Das stand im Gegensatz zu der vornehmen Kühle der Hamburger, mit der ich nicht so richtig klar kam. Durch Barbara und Jens lernte ich auch Rio Reiser und seine Brüder kennen, Peter und Gert Möbius. Die drei Brüder waren schon ’64 zusammen mit Dietmar Roberg und Blalla Hallmann von Nürnberg aus in einem Trecker mit Anhänger über Land gezogen und hatten in den Dörfern ihre Theaterstücke aufgeführt – wie ein kleiner Wanderzirkus. 1967 hatten sie in Berlin die erste Rockoper der Welt aufgeführt, mit Musik von Ralph Möbius, wie Rio damals noch hieß. Die Aufführung fand im Theater des Westens statt, in dem ja noch heute Musicals aufgeführt werden. Es muss eine ziemlich chaotische Produktion gewesen sein, zurück blieb jedenfalls ein Defizit von 100.000 DM.
Die Begegnung mit Rio beeindruckte mich sehr, er sah gut aus, hatte lange Haare und eine enorme Ausstrahlung. Dieser erste und leider sehr kurze Berlin-Aufenthalt bestärkte mich in meinem Entschluss, so bald wie möglich ganz nach Berlin zu ziehen. Zurück in der Heimat verbrachte ich den Sommer im Haus meines Vaters in Schulensee. Eines schönen Nachmittages lief dann im ZDF ein verrückter Film mit dem Namen Drehorgelwalzerwelthit , und in der Fernsehzeitung stand dazu, „Musik: Ralph Möbius“; wow, dachte ich, den kenne ich doch. Die Musik fand ich klasse, und meine Bewunderung für Rio wuchs. Rockmusik mit deutschen Texten in einer Art und Weise, die funktionierte, das war neu. Alles Gründe für mich, nach Berlin zu gehen; und sehr bald sollte es soweit sein. Mein Glück war, dass Barbara und Jens sich im Sommer ’69 auch für zwei, drei Wochen in Schulensee aufhielten, weil mein Vater und seine Frau verreist waren und wir somit das ganze Haus zu Verfügung hatten. Ich erinnere mich noch ziemlich genau an die berühmte Mondlandung, die wir uns zusammen im Fernsehen angesehen haben. Es war am 21. Juli 3:56 MEZ, bei uns also mitten in der Nacht, als Neil Armstrong als erster Mensch den Mond betrat.
Im August schmiedeten wir dann Fluchtpläne für mich. Als mein Vater aus dem Urlaub zurückkam, eröffnete ich ihm, dass ich zusammen mit Barbara und Jens nach Berlin fahren wollte – er war alles andere als erfreut. Aber was sollte er machen? Ich war zwar erst 18 Jahre alt, volljährig war man damals erst mit 21, ich brauchte also die Erlaubnis meiner Erziehungsberechtigten, aber erziehungsberechtigt war meine Mutter, und die hatte nichts dagegen. Das Einverständnis meines Vaters war sozusagen moralischer Natur, hatte aber auch mit Geld zu tun, sprich mit finanzieller Unterstützung. Ich erinnere mich aber daran, dass er sich ausgesprochen fair verhalten hat. Das Hauptproblem für ihn war, dass ich meine Ausbildung in Lübeck abbrechen wollte, die in seinen Augen eine große Chance für mich war, weil ich keine abgeschlossene Schulausbildung hatte. „Was soll jetzt aus dir werden“, meinte er. Dem ganzen 68er-Protest stand er sowieso kritisch gegenüber. Barbara und Jens hatten ihm von der kubanischen Revolution vorgeschwärmt und von der Idee, das Geld abzuschaffen, und er sagte nur, „Gute Idee, das Geld abzuschaffen, wenn es nichts zu kaufen gibt“. Sie haben oft Skat mit ihm gespielt, zwischendurch wurde diskutiert, und er sagte einmal, „Wenn es zur Revolution kommt, stehe ich auf der einen Seite der Barrikade und ihr auf der anderen“, und dann haben sie weiter Skat gespielt. Wir alle mochten unseren Vater, auch wenn er etwas bürgerlich war. Immerhin hatte er auch Sinn für das Verrückte. Er war Mitglied im Freundeskreis Till Eulenspiegel und als Anfang der ’70er das vermeintliche Original der Eulenspiegel-Geschichten von einem gewissen Hermann Bote gefunden wurde, überarbeitete er es und veröffentlichte es neu. Diese Ausgabe gilt bei Kennern bis heute als eines der besten Till Eulenspiegel-Bücher. Als dann klar war, dass ich mit nach Berlin fahre, bestand mein Vater darauf, dass ich in Berlin eine Ausbildung mache, und sagte dann, „Wenn du keine Ausbildung machst, dann zahle ich dir auch keinen Unterhalt“. Das war seine Bedingung, und die habe ich akzeptiert. Ich weiß noch, dass er hinzufügte, „du kannst ja immer noch Straßenfeger werden, das ist auch ein ehrenwerter Beruf“. Das war so ein Spruch, den hatten damals viele Eltern drauf.
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