Und dann ging’s los. Den genauen Tag weiß ich nicht mehr, aber es muss so Mitte August gewesen sein. Wir sind zu dritt in Jens’ VW-Käfer von Kiel nach Berlin gefahren – es war einer der aufregendsten und bedeutendsten Tage meines Lebens. Ich habe dann erstmal bei Barbara und Jens in der Admiralstraße gewohnt. Diese Wohnung gehörte eigentlich dem Schauspieler Heinrich Giskes, der gerade ein längeres Engagement in Westdeutschland hatte. Sie lag im Hochparterre, anderthalb Zimmer. Wenn wir die Tür zum Treppenhaus öffneten, machten wir immer ksch-ksch, damit die Ratten sich verzogen. Ich habe erst später erfahren, dass sie ihre Nester im Keller unter der Wohnung hatten, in dem Möbellager eines Trödlers. Mein Gästezimmer war ein kleiner Raum, in dem man sofort war, wenn man die Wohnungstür aufschloss, einen Flur gab es nicht. Zum Klo musste ich durch das Zimmer von Barbara und Jens hindurch, was natürlich auf Dauer kein angenehmer Zustand war, weder für sie noch für mich. Die Verabredung lautete, dass ich mir so schnell wie möglich eine eigene Bleibe suchte, was ich aber nicht tat. Ich nahm erstmal Kontakt zu Rio auf, den ich ja schon Ostern kurz getroffen hatte. Ich besuchte ihn in einer Fabriketage in der Oranienstraße, dem Hauptquartier des Hoffmanns Comic Teater. Wir verstanden uns auf Anhieb, tranken Jasmintee und rauchten – nicht nur Zigaretten. Die Musik war unser verbindendes Element. Wir hörten Platten von Johnny Cash und Bob Dylan; Pet Sounds , das tierische Album der Beach Boys, aber auch die älteren LPs der Rolling Stones, die überragende Aftermath , sowie Between The Buttons , Their Satanic Majesties Request und Beggars Banquet . Ich kannte ja nur die Single-Hits der Stones, jetzt erschlossen sich mir ganz neue musikalische Welten. Damals gab es noch keine CDs, sondern nur LPs, und die relativ große Fläche der LP-Cover konnte gut für künstlerische Zwecke genutzt werden. Ich erinnere mich an Gespräche mit Rio über das Thema Covergestaltung. Einmal zeigte er mir das Plattencover der LP Between The Buttons von dem Fotografen Gered Mankowitz. Man sieht die Band etwas unscharf am frühen Morgen in freier Natur, das Foto wirkt ungestellt und strahlt eine besondere, etwas surrealistische Stimmung aus – ein kleines Kunstwerk. Rio erklärte mir dazu, wie wichtig das Image einer Band sei. Ich war etwas verwirrt, denn ich wusste noch nicht, was das Wort genau bedeutete. Sechzehn Jahre später haben wir uns als Scherben-Band ein bisschen an der Idee von Gered Mankowitz orientiert. Wir haben für die Fotosession zum LP-Cover Scherben extra eine Nacht durchgemacht, um dann im Morgengrauen übernächtigt auszusehen.
Ich war schwer beeindruckt von Rios Liedern, die er auf einem Revox-Tonbandgerät aufgenommen hatte und mir nach und nach vorspielte, alle mit deutschen Texten. So, wie Rio sang, das war immer authentisch, nie aufgesetzt oder peinlich – ähnlich wie bei Johnny Cash. Das hört man einfach. Durchs Musizieren und die Gespräche habe ich im Laufe der Jahre viel von Rio gelernt. Er vertrat zum Beispiel die Ansicht, dass es ein bestimmtes Qualitätsmerkmal ist, wenn sich ein Song nur auf einem einzigen Instrument spielen lässt, auf der Gitarre oder auf dem Piano.
Bereits nach wenigen Tagen fragte Rio mich, ob ich nicht bei zwei Stücken Bassgitarre spielen wollte. Dazu gibt es eine Vorgeschichte: Rio hatte dem Schlagerproduzenten Peter Meisel ein Demoband geschickt, und der hatte sich zwei Songs ausgesucht, die er produzieren wollte: Freitagabend und Baby . Das sollten A- und B-Seite einer Vinyl-Single werden. Doch Bassist Georgie, mit dem Rio vorher gespielt hatte, hing an der Nadel und konnte oder wollte irgendwie nicht mehr spielen. Deswegen fragte Rio mich, ob ich nicht für Georgie einspringen wolle. Ich sagte, ich könne zwar ein bisschen Lagerfeuer-Gitarre, aber einen E-Bass hätte ich noch nie in der Hand gehalten. „Das macht nix“, sagte Rio, „ich zeig’s dir“. Und ehe ich mich’s versah, hatte er mir einen Bass der Marke Höfner umgehängt, den sogenannten Beatles-Bass, und zeigte mir als Einstieg den Anfang der Basslinie von I Can’t Help Myself von den Four Tops. Das war ein Basslauf von James Jamerson, dem Kult-Bassisten, der mir damals aber noch kein Begriff war. So nahm das Schicksal seinen Lauf: Ich wurde Rock’n’Roll-Bassist! James Jamerson war, wie ich später erfuhr, der Bassist einer Studioband, die sich Funk Brothers nannte. Das war die Motown-Studioband aus Detroit, die haben die ganzen Motown-Sachen eingespielt. Alle Musiker waren großartig, aber für mich ragte Jamerson heraus, weil er mich mit seinen fantasievollen Basslinien beeindruckte. Ich habe später versucht, seine Bassläufe nachzuspielen, und das war verdammt nochmal nicht einfach. Ich konnte die natürlich nicht auf Anhieb und auch nicht alle Phrasierungen, aber ich habe mich relativ schnell reingefummelt, jedenfalls in die Grundlinien. Und ich begann von nun an, wenn ich einen Song hörte, immer auf den Bass zu achten, das hatte ich früher selten getan. Viel geprobt habe ich nie; doch wenn zu einem Stück eine Basslinie nötig war und sie mir gefallen hat, dann habe ich solange rumprobiert, bis ich sie konnte. Wir haben später nicht nur eigene Songs gespielt, sondern auch viele andere Sachen nachgespielt, dadurch lernst du viel. Denn natürlich geht es auch darum, sein Instrument von Grund auf zu beherrschen, also um das Handwerk. Aber ich habe nie irgendwelche Fingerübungen gemacht, um meine Technik zu verbessern. Bill Wyman, der Rolling Stones-Bassist, spricht in diesem Zusammenhang von Simplizität – ist genau mein Ding. Bloßes Virtuosentum hat mich nie interessiert. Im Gegenteil, wenn ich das Gefühl habe, da spielt jemand besonders schnell oder kompliziert, nur weil er beweisen will, was er alles draufhat, dann langweilt mich das.
Zu den Musikern des Hoffmanns Comic Teaters gehörten auch RPS Lanrue und Dietmar Roberg. Die waren aber gerade verreist, daher war ich in den ersten Tagen mit Rio allein. Er sang und begleitete sich auf der Gitarre oder am Piano, und ich zupfte dazu den Bass. Dann kam Dietmar zurück und spielte Rhythmusgitarre. Ein paar Tage später folgte Lanrue und übernahm das Schlagzeug. Da waren wir dann komplett. Das war die erste richtige Band, in der ich gespielt habe. Und was soll ich sagen? Es war einfach affentittengeil. Jeder macht etwas, eins greift ins andere, und das Ergebnis ist ein Musikstück. Ich war glücklich, auch wenn ich wusste, dass wir uns musikalisch noch erheblich steigern mussten.
Die Geschichte mit dem Schlagerproduzenten Peter Meisel sollte ich aber noch zu Ende erzählen. Wir, also Rio Reiser, RPS Lanrue, Dietmar Roberg und ich als Band, Rios Bruder Gert, sowie Barbara und Jens als Gäste, waren dann im Sonopress-Tonstudio der Ariola, dem späteren Hansa-Tonstudio, in dem David Bowie den Song Heroes aufnehmen sollte. Es befand sich in einem ziemlich verfallenen Gebäude in der Köthener Straße 38, ganz nah am Potsdamer Platz. Das Haus stand allein in der Wüste, die der Krieg hier hinterlassen hatte, niemand hatte ein Interesse daran, hier zu bauen, weil die Mauer direkt durch den Potsdamer Platz hindurch führte. Es war eine seltsame Situation, über diesen verwaisten, vom Regen aufgeweichten Platz zu stapfen, auf ein heruntergekommenes Gebäude zu, um dort eine Karriere als Rockband zu starten. Das hätte wahrscheinlich auch ein gutes Coverfoto abgegeben. Es hatte etwas Unwirkliches. Für mich sowieso, weil ich ja gerade erst ein paar Basslinien gelernt hatte. Wir hatten Freitagabend und Baby wochenlang geprobt und nahmen diese beiden Lieder schließlich in diesem legendären Studio auf. Ich durfte sogar noch meine Künste auf der Blockflöte zum Besten geben, doch Peter Meisel hatte irgendwas gegen Rios Stimme oder seine Art zu singen, ich weiß nicht mehr genau, was es war, jedenfalls wurde die Single nicht produziert. Jens hat die Geschichte anders in Erinnerung. Er meint, dass wir nach den Aufnahmen alle zusammen in Meisels Büro gingen. Meisel saß hinter seinem dicken Schreibtisch, Rio auf der anderen Seite, Jens zufällig neben Rio, wir anderen dahinter, und es war eine merkwürdig gedrückte Situation. Meisel schob Rio einen Vertrag und einen Kugelschreiber rüber und fragte, „Nur der Sänger oder die ganze Band?“ Und Rio saß da wie gelähmt und reagierte nicht. Starr, unbeweglich, stumm. Er sagte nicht ja, er sagte nicht nein, aber er hat auch nicht unterschrieben. Wahrscheinlich wusste er, dass es der unwiderrufliche Schritt in eine kommerzielle Karriere gewesen wäre, und die wollte er nicht. Witzigerweise ist Rio nach Auflösung der Scherben dann doch bei Meisel gelandet. Sein Manager für die Solokarriere als König von Deutschland wurde George Glück. George Glück war ’75 in den Meisel-Verlag eingestiegen, und so hat sich der Kreis geschlossen. Ironie des Schicksals, könnte man sagen. Vielleicht hat Meisel damals hinter seinem Schreibtisch gesessen und gedacht, „wo immer du auch hingehst, du entkommst mir nicht“. So ist es eben in der Haifischbranche.
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