Doch auch die Archäologie selbst trägt einen beträchtlichen Teil Schuld daran, dass sie mit Klischees überfrachtet ist. Schließlich werden die Ergebnisse von Ausgrabungen nach Jahren intensiver Forschung in großen Ausstellungen der Öffentlichkeit in medientechnischer Perfektion präsentiert. Viele, zu viele dieser Ausstellungen suchen das Spektakuläre, denn da sie teuer sind, spielen kommerzielle Gesichtspunkte von vornherein eine wichtige Rolle. Und spektakuläre Ausstellungen ziehen nun einmal entschieden mehr Besucher an als solche, bei denen weder Gold noch Schädelkult, weder Mumien noch Kannibalismus oder in Grubenringen gefundene klein gehackte Knochen von vielen hundert Menschen im Mittelpunkt stehen. „Die Welt der Kelten: Zentren der Macht – Kostbarkeiten der Kunst“, so lautete das Thema der jüngsten Landesausstellung in Baden-Württemberg (2012/13), und auch in diesem Titel stecken – so wenig sensationell er sich verglichen mit anderen Titeln archäologischer Ausstellungen gibt – doch alle entscheidenden Ingredienzen für einen Publikumserfolg: ein in Mitteleuropa und nicht zuletzt im südwestlichen und südlichen Deutschland in der populären Imagination sehr bekanntes ‚Volk‘ – dessen Welt, Machtzentren und natürlich dessen kostbare Kunst. Die Ausstellung wurde sechs Monate gezeigt und von 185 000 Besuchern gesehen; man darf daher zweifellos sagen, dass sie „mit vollem Erfolg“ zu Ende ging. 5
Das Problem so mancher Ausstellungen liegt natürlich nicht darin, dass sie gezeigt werden – im Gegenteil. Es liegt vielmehr in der Tatsache, dass die Präsentation allzu häufig auf das Kostbare, Exotische sowie vor allem das den Werten unserer Kultur Entgegengesetzte, oft Grauenhafte und Abstoßende, auf jeden Fall aber auf das Unverständliche ausgerichtet erscheint. Nicht selten ist aber auch eine gegenläufige Tendenz leitend: So stellt man etwa die uns ja tatsächlich alles in allem völlig fremde ur- und frühgeschichtliche Welt nicht etwa kritisch und mehrdimensional dar, sondern präsentiert sie ahistorisch nach den Vorstellungen der Gegenwart. Überdies wird die Archäologie als Wissenschaft in den meisten Ausstellungen auf ihre uneingeschränkte Teilhabe an der Welt des High-Tech reduziert, und dabei bleibt nicht nur ihr historisch-kulturwissenschaftliches Anliegen, sondern auch ihr vergleichend-analogisches Verfahren der Erkenntnisgewinnung unterbelichtet.
Halten wir fest: In der öffentlichen Wahrnehmung wird Archäologie in erster Linie mit Ausgrabungen gleichgesetzt. Die nächste Ebene des gängigen Klischees von Archäologie wird dann allzu häufig in oft vielversprechenden und intensiv beworbenen Ausstellungen bedient, in denen die Ergebnisse der Ausgrabungen einem interessierten Publikum dargeboten werden.
Das Ausgrabungswesen gehört in vielen europäischen Ländern in den Bereich der staatlichen oder kommunalen Archäologischen Denkmalpflege – bisweilen auch ‚Bodendenkmalpflege‘ genannt. Unabhängig von der jeweiligen Zuständigkeit – es gibt zudem von Universitätsinstituten und sonstigen wissenschaftlichen Einrichtungen betriebene Forschungsgrabungen – wird das Ausgrabungswesen in der modernen Archäologie oft mit dem Begriff ‚Feldarchäologie‘ belegt. An der Wiege der Feldarchäologie steht nicht etwa Johann Joachim Winckelmann (1717–1768), der ‚Ahnherr‘ der ursprünglich auf die antike Kunst ausgerichteten ‚Klassischen‘ Archäologie, sondern Heinrich Schliemann (1822– 1890). Schliemann, schwerreicher Kaufmann und archäologischer Autodidakt, hat nicht nur in Troia, sondern auch in Tiryns, Mykene, Orchomenos und Ithaka ausgegraben; er umschrieb seine Tätigkeit als „Forschung mit Spitzhacke und Spaten“. 6Daher überrascht es nicht, dass jenes bis heute populäre Wort von der Archäologie als ‚Wissenschaft des Spatens‘ ebenfalls auf ihn zurückgeht. Somit steht Schliemann an der Schwelle jener gerade angesprochenen immer noch weitverbreiteten Vorstellung, die Archäologie mit Ausgrabungen gleichsetzt. Er hat vor allem mit dem von ihm zitierten Spaten ein gewissermaßen ‚handfestes‘ Symbol der Archäologie geschaffen, das bis heute fortlebt. Spitzhacke und Spaten entsprachen damals durchaus dem Stand der Ausgrabungstechnik, während man heutzutage eher an Maurerkellen, Stukkateureisen, Pinzetten und Pinsel denken würde. Aber es geht um die Werkzeugmetaphorik als solche: Sie führt unterschwellig zur Reduktion einer Wissenschaft auf den wesentlich technischen Vorgang der Quellengewinnung. Wie abwegig der Schliemann’sche Begriff von der ‚Spatenwissenschaft‘ besonders angesichts der seit mehr als einhundert Jahren vollzogenen universitären Etablierung der ‚ausgrabenden‘ Archäologien ist, macht man sich am besten an Beispielen klar: Niemand käme auf die Idee, von einer ‚Wissenschaft des Mikroskops‘ oder einer ‚Wissenschaft des Skalpells‘ zu sprechen. Das auch heute noch scheinbar so handfeste und simple Ausgraben ist in der Praxis eine durchaus diffizile Aufgabe, deren erfolgreiche Durchführung großer Erfahrung und beträchtlicher Beobachtungsgabe bedarf. 7Die Institute für Archäologie an den Universitäten bieten regelmäßig Praktika an, in denen die Studierenden in die Feldarchäologie eingeführt werden. Außerdem gibt es Lehrbücher, die sich speziell der Ausgrabungstechnik und der Ausgrabungsmethodik widmen. 8
Bisher haben wir so getan, als gäbe es ‚die‘ oder eine einzige Archäologie. Es wird höchste Zeit, diesen Eindruck zu korrigieren. Tatsächlich bestehen an deutschen Universitäten insgesamt sieben archäologische Einzelfächer, und dabei ist die Ägyptologie noch nicht mitgezählt: Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie, Vorderasiatische Archäologie, Biblische Archäologie, Klassische Archäologie, Provinzialrömische Archäologie, Christliche Archäologie und Archäologie des Mittelalters. 9Unsere Ausführungen betreffen zwar jedes einzelne dieser forschungsgeschichtlich und institutionell selbständigen Fächer, aber eben doch in unterschiedlichem Maße. Denn im Zentrum unseres Interesses steht die Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie.
Die Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie oder Ur- und Frühgeschichtswissenschaft erforscht vor allem die nicht durch Schriftzeugnisse bezeugte Vergangenheit des Menschen seit den Australopithecinen Afrikas vor 4 Millionen Jahren. Auf die Urgeschichte folgt die Frühgeschichte, die nach konventionellem Verständnis mit den ersten schriftlichen Quellen einsetzt. Diese zunächst wenigen Schriftzeugnisse vermögen das aus den materiellen Hinterlassenschaften gewonnene Bild der Vergangenheit jedoch bestenfalls schlaglichtartig zu erhellen beziehungsweise zu ergänzen. Der Zuständigkeitsbereich der Ur- und Frühgeschichtsforschung endet, wenn die schriftliche Überlieferung zunehmend reicher zu fließen beginnt. Diese Zeit ist je nach Kontinent, Land und Region unterschiedlich anzusetzen. In Mitteleuropa beginnt sie mit der Herrschaft der Karolinger in der Mitte des 8. Jahrhunderts, im Inneren Kongobecken Zentralafrikas hingegen erst kurz vor der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Alles, was vor dieser Zeit über den Menschen Auskunft zu geben vermag, sind zum einen dingliche Quellen, also Sachgut, und zum anderen Fundzusammenhänge. Auch sie haben sich materiell niedergeschlagen und sind in dieser oder jener Form erhalten geblieben. In der Archäologie spricht man statt von Sachgut meist von ‚Funden‘, während Fundzusammenhänge im Sinne von Fundkontexten oder Fundsituationen in der Regel mit dem Fachausdruck ‚Befunde‘ belegt werden. 10
Jenseits aller forschungsgeschichtlichen Unterschiede und ihrem nach Zeit und Raum bestimmten Forschungsgegenstand weisen die archäologischen Einzelfächer einen gemeinsamen Bezugspunkt auf: Sie sind ausnahmslos historisch orientiert, empfinden sich traditionell als Geisteswissenschaften und verstehen sich heutzutage zunehmend als historisch ausgerichtete Kulturwissenschaften. 11Jedenfalls suchen sie ihren ‚disziplinären Ort‘ nicht in den Naturwissenschaften. So fühlen sich die Biblische und die Christliche Archäologie eng mit der Theologie verbunden – eine Tatsache, die sowohl historische als auch inhaltliche Gründe hat.
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