Für unseren Zusammenhang ist ferner wichtig, dass sich die Individualisierungstheorie in genau gleicher Weise kritisieren lässt wie die Säkularisierungstheorie. Auch hier fehlt eine Akteurperspektive: Zwar wird behauptet, die Individuen würden immer individueller, aber in vielen Versionen der Individualisierungstheorie wird dies als abstrakter, die Individuen als Objekte erfassender Prozess dargestellt. So bleibt auch hier unklar, wie die Situationsveränderungen und daraus folgenden individuellen und kollektiven Handlungen zur Individualisierung geführt haben sollen und wie die Theorie mit den konkreten historischen Geschehnissen verbunden werden kann. Genau betrachtet haben die Individualisierungstheoretiker letztlich keine neue Erklärung für ein bestehendes Phänomen vorgeschlagen. Ihr wesentlicher Beitrag besteht vor allem in zweierlei: Zum einen weisen sie darauf hin, dass durch Modernisierung eine individuelle Wahlfreiheit in religiösen und spirituellen Belangen entsteht, die sehr entscheidende Auswirkungen |28| auf Religion und Religiosität hat. Zum anderen rufen sie dazu auf, das zu erklärende Phänomen neu zu definieren, m. a. W. Religiosität weiter zu fassen, als mit einer Konzentration auf christlich-kirchliche Religiosität erreicht wird. Diese beiden Punkte müssen u. E. von jeder zukünftigen Theorie religiösen Wandels aufgenommen werden.
Vor allem seit den 1980er Jahren haben die Vertreter der sogenannten Markttheorie die Säkularisierungstheorie stark infrage gestellt. Eine Gruppe von vor allem US-amerikanischen Forschern – Rodney Stark, Roger Finke, William Bainbridge und Laurence Iannaccone – behauptete in vielerlei Hinsicht das genaue Gegenteil dessen, was Modernisierungstheoretiker seit vielen Jahrzehnten als gesichertes Wissen angenommen hatten.65 Die Markttheoretiker bestreiten energisch, dass die Modernisierung westlicher Gesellschaften zu einer Abnahme von Religion und Religiosität geführt habe. Dies sei eine Selbsttäuschung, die es ein für alle Mal zu begraben gelte.66 Der religiöse Niedergang in Europa sei ein Mythos, religiöse Glaubensüberzeugungen in Europa seien nach wie vor sehr hoch, in früheren Zeiten seien die Personen viel weniger religiös gewesen als oft vermutet, und ganz generell sprächen die Entwicklungen in den USA, den arabischen Ländern und Osteuropa gegen die These fortschreitender Säkularisierung.67 Wenn nicht durch die Modernisierungstheorie, wodurch lassen sich dann die grossen Religiositätsunterschiede zwischen verschiedenen Ländern erklären?
Die Lösung sei – so die Markttheoretiker – bestechend einfach: Es genüge, Religion als einen Markt mit Anbietern (Kirchen und religiöse Gruppen) und Nachfragern (Gläubige) zu verstehen und die allgemeinen ökonomischen Marktgesetze von Angebot und Nachfrage anzuwenden.68 Eine entscheidende, dem Ansatz zugrundeliegende Annahme ist eine konstant gleichbleibende religiöse Nachfrage – d. h., dass Menschen überall auf der Welt im Prinzip die gleichen religiösen Bedürfnisse, den gleichen Durst nach «überweltlichen Gütern» aufweisen. Das aber bedeutet, dass Unterschiede zwischen verschiedenen Ländern ausschliesslich durch unterschiedliches religiöses Angebot zu erklären sind, und dieses wiederum hängt zentral von der staatlichen Regulierung des religiösen Marktes ab. |29|
In regulierten Märkten (in denen wir z. B. ein Monopol oder Oligopol finden) würden die Menschen – so die These der Markttheorie – mit zu teuren und qualitativ tief stehenden religiösen Produkten versorgt. Religion sei deshalb unattraktiv und würde aus diesem Grund wenig nachgefragt. Dies erkläre die tiefe Religiosität in Westeuropa. In Ländern ohne Regulierung, in Ländern mit freier Konkurrenz also, stünden die religiösen Gemeinschaften miteinander im Wettstreit, eiferten um die Gunst der Gläubigen und produzierten genau diejenigen religiösen Güter, die den Menschen am besten zusagten. Die Konsequenz bestünde in einer hohen Gesamtreligiosität, wie sie sich etwa in den USA zeigt. Überhaupt sähe man, so die Markttheoretiker weiter, gerade an der Geschichte der USA, wie Industrialisierung und Modernisierung gerade nicht mit einer Abnahme, sondern mit einer Zunahme von Religiosität einhergegangen seien.69
Die Markttheorie weist im Vergleich zu Modernisierungs- und Individualisierungstheorie völlig andere Stärken und Schwächen auf. Positiv ist zu werten, dass diese Theorie die Akteurperspektive beinhaltet. Der Ansatz spricht nicht nur abstrakt von Prozessen, sondern von Individuen und kollektiven Akteuren (Kirchen, Organisationen usw.), die nicht nur passiv den Geschehnissen ausgeliefert sind, sondern diese aktiv gestalten können. Auch wird hier im Unterschied zu den zwei vorherigen Theorien ein klarer kausaler Mechanismus vorgestellt: Es ist einleuchtend, wie – der Theorie gemäss – unterschiedliche gesellschaftliche Makrobedingungen die Situation von Individuen und kollektiven Akteuren verändern, wie diese reagieren und wie sich hieraus die zu erklärenden neuen Situationen ergeben.
Der Schwachpunkt der Theorie liegt nicht in zu geringer Konkretheit, sondern gerade umgekehrt darin, dass ein sehr spezieller Mechanismus in unzulässiger Weise auf alle möglichen Zeiten und Gesellschaften verallgemeinert wird. So ist offensichtlich, dass sich Kirchen in sehr vielen Gesellschaften nicht als Firmen verstehen und Gläubige sich nicht wie Kunden verhalten.70 Empirisch zeigt sich, dass der von der Markttheorie postulierte Mechanismus oft nicht spielt. Vermehrter Pluralismus, ein freierer Markt und weniger Regulierung führen oftmals gerade nicht zu mehr Religiosität.71 Zudem kann auch der religiöse Bedarf nicht einfach als konstant angesehen werden, sondern unterliegt Veränderungen und Beeinflussungen durch die jeweiligen Regionen und Umweltbedingungen.
Auch wenn die Ideen der Markttheoretiker sich als Ganzes nicht bewährt haben, sind u. E. doch verschiedene Elemente ihrer Theorie durchaus brauchbar. |30| Vor allem die Idee der Konkurrenz um die Gunst, Zeit und Energie der Menschen werden wir für unsere eigene Theorie aufgreifen.
2.2 Die allgemeine Theorie religiös-säkularer Konkurrenz
Im Folgenden schlagen wir eine neue Theorie vor, die versucht, die genannten Schwierigkeiten der bisherigen Ansätze zu vermeiden. Die von uns vertretene Theorie sieht den religiösen Wandel als Resultat religiös-säkularer und intra-religiöser Konkurrenzverhältnisse auf verschiedenen Ebenen. Diverse interne und externe Faktoren (z. B. Kriege oder Erfindungen) wirken darauf ein, wer sich in diesen Konkurrenzverhältnissen durchsetzt. Ferner postulieren wir einen Wechsel des religiösen Konkurrenzregimes in den 1960er Jahren. Hiermit ist gemeint, dass die religiös-säkulare und intra-religiöse Konkurrenz betreffenden gesellschaftlichen Regeln in dieser Zeit einen tiefgreifenden Richtungswechsel durchgemacht haben. Wir skizzieren zunächst die allgemeine Theorie und wenden sie dann in einer «sozio-historischen Konkretisierung» auf den uns interessierenden Fall der Schweiz an.72
Eine terminologische Bemerkung: Unsere Theorie bezieht sich auf religiös-säkulare und intra-religiöse Konkurrenz; wichtig ist, dass der Konkurrenzbereich sowohl religiöse als auch säkulare Anbieter umfassen kann. Im Folgenden verwenden wir aus Gründen der besseren Lesbarkeit den Begriff «religiös-säkulare Konkurrenz» oft inklusiv, d. h., intra-religiöse Konkurrenz ist mitgemeint. Wo es ausschliesslich nur um das eine oder andere geht, machen wir dies speziell kenntlich.
Vorbemerkungen
Vorläufer der Theorie
Schon andere Forschende haben auf religiös-säkulare und intra-religiöse Konkurrenzverhältnisse hingewiesen. Wir finden diesbezügliche Befunde und Bemerkungen in so verschiedenen Disziplinen wie der Soziologie, den Wirtschaftswissenschaften, dem Marketing oder der Geschichte. Diese Einsichten sind allerdings bisher noch nie gesamthaft dargestellt und in einer einheitlichen Theorie zusammengefasst worden. Betrachten wir kurz die wichtigsten dieser Elemente.73 |31|
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